Bourg d'Oisans (dpa) - Der Patient schickte einen Vertreter zum behandelnden Arzt. Tobias Steinhauser fuhr für seinen Freund und Team-Kapitän Jan Ullrich zum Cabriolet des Tour-Doktors Gerard Porte, spielte dem Mediziner die Rolle des Leidenden vor und ließ sich Mittel gegen Fieber und eine Magen-Infektion geben.
In der Nacht vor der Etappe nach dem Mannschaftszeitfahren hatte Ullrich plötzlich hohe Temperatur bekommen - 39,2 Grad. Keiner im Feld der 198 Fahrer und etwa 1500 Journalisten sollte davon erfahren. «Dann hätte Armstrong doch angegriffen», vermutete im Ziel der «Königsetappe» in L'Alpe d'Huez Bianchi-Manager Jacques Hanegraaf (Niederlande), der im Mai den dramatischen Wechsel von Coast zu Bianchi maßgeblich in die Wege geleitet hatte. «Wir wollten die Konkurrenten nicht aufscheuchen», meinte Ullrich. «Am Donnerstag hatte ich Angst, dass Jan nicht mehr weiterfahren könnte», sagte sein Betreuer und Teamchef Rudy Pevenage.
Am Sonntag lüfteten Ullrich und Pevenage ihr kleines Tour- Geheimnis und berichteten von der Krankheit, die nun langsam am Abklingen sei. Auch wenn es sich ein bisschen nach Entschuldigung für die 1:24 Minuten Rückstand auf Armstrong in L'Alpe d'Huez anhörte. «Die Beine sind noch schwach», sagte Pevenage, der Ullrich auch schon bei der Tour-Generalprobe in der Schweiz mit einer leichten Erkältung ein Handicap attestieren musste. «Ich habe heute einen Kampf gegen mich gewonnen», sagte Ullrich in L'Alpe d'Huez.
«Für einen Kranken ist Jan aber ziemlich gut unterwegs», sagte sein alter Telekom-Kollege und jetzige Team-Chef Bjarne Riis vom Konkurrenz-Unternehmen CSC, in dem mit Tyler Hamilton (USA) ein eigentlich Schwerverletzter in L'Alpe d'Huez fast nach den Sternen griff. Riis klärte über die inzwischen radiologisch zwei Mal belegten, wahren Leiden des kleinen Amerikaners auf, der vor einer Woche in Meaux schwer gestürzt war und die Tour seit dem laut «L'Equipe» als «Vater Courage» bereichert.
«Er hat keinen doppelten Schlüsselbeinbruch, sondern einen doppelten Riss in Form eines V. Trotzdem hat er natürlich enorme Schmerzen, aber es wird von Tag zu Tag etwas erträglicher, so dass wir nach der heutigen Etappe glauben, dass er weiter fahren kann und wir von ihm sogar noch einiges erwarten können», sagte Riis. Hamilton konnte hoch nach L'Alpe d'Huez, wo auf den Straßen Volksfest-Stimmung herrschte, sogar Armstrong attackieren.
Auch ohne aktuelle Magenprobleme konsultiert Ullrich nach jeder Etappe den Bundeswehr-Arzt Thomas Klimaschka, der sich auch mit Akupunktur auskennt. Der Toursieger von 1997, dem der Virus zu schaffen gemacht haben soll, der am Sonntag die halbe Fassa-Bortolo- Mannschaft zur Aufgabe zwang, lässt sich jeden Abend Nadeln setzen, auch ohne akute Beschwerden. Hanegraaf wertet das ein wenig auch als psychologische Betreuung: «Spitzensportler brauchen Spitzen- Behandlungen.» Riis würde Ullrich sogar den Toursieg zutrauen, «wenn er wieder lernt, am Berg Rhythmuswechsel zu kontern. 1997 konnte er das noch.»