Orange (dpa) - Der Mythos lebt. Die 24. Auflage des Spektakels am bekanntesten Anstieg des Radsports hinauf nach L'Alpe d'Huez lockt die Massen wie nie zuvor. Bei aller Vorfreude auf den Höhepunkt der 91. Tour de France sind die Bedenken jedoch groß.
Weil die Begeisterung der Fans mitunter an Raserei grenzt, fürchtet Hans-Michael Holczer um die Sicherheit der Fahrer und Zuschauer. «Es gibt Grenzen bei der Tour. Und ich habe Angst, dass diese Grenzen hier überschritten werden», warnte der Manager des Team Gerolsteiner.
Die Skepsis ist berechtigt. Denn die mutige Entscheidung der Organisatoren, in der steilen Freilichtbühne erstmals ein Einzelzeitfahren auszurichten, hat bei den Fans zusätzliches Interesse geweckt. Zwei Tage vor dem Start gab es für deren zahlreiche Wohnmobile und Autos am Fuße des Berges in Bourg d'Oisans keinen Platz mehr. Nur eine logistische Meisterleistung kann verhindern, dass es beim individuellen Kampf gegen die Uhr zu einem Chaos kommt. Bereits im vergangenen Jahr waren nach Polizeiangaben angeblich 900 000 Zuschauer dabei. Diese hohe Zahl wird von vielen Beobachtern jedoch angezweifelt.
Um dem erwarteten Andrang Herr zu werden, haben sich die Veranstalter besondere Maßnahmen ausgedacht. Ein Shuttle-Service mit 200 Bussen von Grenoble und Rochetaillée soll den Zuschauern die An- und Abreise erleichtern. Für die Sicherheit der Fahrer, die ab 14.00 Uhr im Zwei-Minuten-Takt starten, sorgen 650 Gendarmen. Jeder Fahrer erhält eine Motorradeskorte, auf den letzten 7,5 Kilometern sollen Absperrungen drohende Kollisionen mit den Fans verhindern. «Das wird eine Gratwanderung», sagte Uwe Peschel, ältester Tour-Teinehmer vom Team Gerolsteiner.
Der Faszination des Berges kann sich kein Fahrer trotz solcher Bedenken entziehen. Seit 1952 quälen sich die Fahrer den 13,8 Kilometer langen Anstieg von 722 auf 1860 Meter hoch. Erstmals endete damals eine Etappe auf einem Berg. Doch weil die Fahrer um Sieger Fausto Coppi die schlechten Straßenverhältnisse beklagten, dauerte es 24 Jahre bis zur Rückkehr der Tour-Karawane. Diese als Werbe-Aktion für den schmucklosen Skiort geplante Maßnahme machte sich bezahlt: Mittlerweile ist L'Alpe d'Huez zu einer Art Wallfahrtsort für Radsport-Fans geworden.
Die sagenhaften Duelle auf den Serpentinen füllen ganze Bücher. Die gemeinsame Ankunft von Greg LeMond und Bernard Hinault (1986), der Einbruch von Didi Thurau (1977) und der durch einen unachtsamen Fan verursachte Sturz des späteren Siegers Giuseppe Guerini (1999) sind unvergessen. Genau wie der Auftritt von Marco Pantani (1997), der die 21 Kehren in der Rekordzeit von 37:35 Minuten hochjagte. Dem am 16. Februar verstorbenen Rekordhalter aus Italien ist das diesjährige Rennen gewidmet.
Nicht nur für Fans ist der Berg der Gipfel der Gefühle. Ein Sieg in L'Alpe d'Huez bedeutet für die Radsportler ähnlich viel wie ein Wimbledon-Sieg für Tennisspieler. Einen deutschen Namen sucht man in der Siegerliste vergeblich: Immerhin schaffte es Jan Ullrich 1997 auf Rang zwei. Nicht zuletzt deshalb trug er das Gelbe Trikot damals auch noch in Paris.