Paris (dpa) - Mitten in die Champagner-Party der letzten Tour- Etappe auf den Champs Elysées platzte die Nachricht, dass 15 der 20 Erstplatzierten des vergangenen Jahres vor Nach-Untersuchungen ihrer Blutproben stehen.
Damit besteht höchste Gefahr nicht nur für das Gesamtklassement der Tour 2008, sondern vielleicht sogar für den Fortbestand des französischen Heiligtums des Sports. Für die Gesamtwertung der am 26. Juli zu Ende gegangenen Frankreich-Rundfahrt galt ohnehin die Lotto-Losung: Ohne Gewähr - mehr denn je nach der Ankündigung der Französischen Anti-Doping- Agentur AFLD, die laut «L'Équipe» gezielt nach dem Blut-Dopingmittel CERA, über das 2008 bereits vier Fahrer stolperten, suchen will. Zuletzt verschwanden nachträglich der vermeintliche Toursieger 2006, Floyd Landis, und 2008 der drittplatzierte Bernhard Kohl aus den Wertungen.
«Die Radfahrer sollten sich nicht sicher sein, ob das Endergebnis für die Ewigkeit Bestand haben wird», sagte der Kölner Doping- Analytiker Wilhelm Schänzer der Deutschen Presse-Agentur dpa im Blick auf die Tour 2009. Ein junger Hoffnungsträger wie Tony Martin wähnt den Radsport nach der bisher skandalfreien Tour hingegen auf dem richtigen Weg. Kritikern schrieb er ins Stammbuch: «Von der Stimmung Wer schnell fährt, ist gedopt, sollten wir abkommen.»
Doch ein Blick ins Tour-Geschichtsbuch zeigt: Skepsis ist angebracht. Vor drei Jahren ließ sich Landis als Armstrong-Nachfolger in Paris im Gelben Trikot feiern - wenige Tage später wurde der Amerikaner des Testosteron-Dopings überführt und der Spanier Oscar Pereiro als Gesamtsieger notiert. Im Vorjahr waren Stefan Schumacher und Kohl die strahlenden Gerolsteiner-Helden. Dann kam im Oktober der CERA-Befund - die beiden Zeitfahrsiege des Nürtingers und Kohls dritter Gesamtrang wurden aus der Tour-Historie gestrichen.
Und die Vorboten lassen auch bei dieser Tour, bei der Alberto Contadors Leistungsexplosion manche Beobachter wie den dreifachen Champion Greg LeMond ungläubig zurückließ, das Schlimmste befürchten. Vor allem der Fall Danilo di Luca, der beim diesjährigen Giro d'Italia als Doper entlarvt wurde, ließ aufhorchen. Der Giro-Zweite war Ende Mai zweimal positiv auf das EPO-Präparat CERA getestet worden, erst acht Wochen später während der Großen Schleife erfuhr die Öffentlichkeit von dem Befund.
Wird die gleiche Zeitspanne zwischen Test und Bekanntgabe als Maßstab angelegt, könnte der Tour im Oktober nicht nur die Doping- Nachlese von 2008 - und damit ein verändertes Klassement - bevorstehen. «Man hofft, dass hier alle gelernt haben. Aber es ist halt nur eine Hoffnung, denn wir wurden alle schon getäuscht», sagte Columbia-Sportdirektor Rolf Aldag, selbst ehemaliger Doper.
Für Milram-Teamchef Gerry van Gerwen sind derartige Befürchtungen «Komplott-Theorien». Er habe - anders als etwa 2008 beim später als Doper überführten Italiener Riccardo Ricco - keine merkwürdigen Dinge gesehen, bei denen er dachte: «Hoppla, Wo kommt der denn her?» Auch sein dänischer Saxo-Bank-Kollege Bjarne Riis ist sich sicher, dass die «blöden Leute» weniger werden: «Wir sind auf dem richtigen Weg.»
Konfrontiert man sie mit solchen Aussagen, können Dauer-Kritiker wie Werner Franke nur sarkastisch auflachen. Dass es bei der Tour bislang keinen Dopingfall gegeben habe, heiße überhaupt nichts, sagte der Heidelberger Molekularbiologe. Mit den jetzigen Tests würde einfach nichts erkannt werden. Nach wie vor gehöre Doping - auch bei der 96. Ausgabe der Großen Schleife - zum Inventar des Radsports. «So war es und so ist es», meinte Franke.
So weit würde Schänzer nicht gehen, aber auch der Forscher vom Kölner Institut für Biochemie ist vorsichtig. Es gebe nach wie vor «eine Dunkelziffer von Verfahren, die nicht nachweisbar sind», die aber eventuell später in eingelagerten Proben entdeckt werden könnten, sagte Schänzer. Die Information, dass es Nachkontrollen gebe, habe sicher «abschreckend» auf potenzielle Betrüger gewirkt. Den Chronik-Schreibern aber rät er: «Man muss abwarten, ob im Nachhinein etwas bekannt wird.»