Ronse (dpa) - Das unscheinbare Hotel an der Autobahn zwischen Gent und Kortrijk ist mittlerweile so etwas wie ein zweites Zuhause. Seit 2011 steigt John Degenkolb hier im Herzen Flanderns ab, kennt jeder Kurve, jeden Pflasterstein und wahrscheinlich auch jeden Postboten. Noch immer freut sich Degenkolb, wenn er jedes Jahr für rund zwei Wochen in den um diese Jahreszeit oft windumtosten und nassen Landstrich zurückkehrt. Gekrönt wird die Zeit mit der sogenannten heiligen Woche des Radsports, den brachialen Kopfsteinpflaster-Klassikern Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix.
«Ich bin froh, dass die Begeisterung in mir selbst nicht abflacht. Es ist immer wieder schön, hier zu sein», sagt Degenkolb im Gespräch mit der dpa. Wenn das Wetter richtig schlecht ist, fühlt der Routinier sich wohl. Es liege ihm einfach. Und wenn Degenkolb nach den Strapazen Fotos von völlig verdreckten und erschöpften Rennfahrern sieht, ist das wie eine Art zweite Belohnung. «Man kann selber gar nicht fassen, dass man sich da durchgekämpft hat.»
Am Sonntag wird Degenkolb sicherlich wieder mit einem Lachen auf dem Marktplatz von Brügge stehen und sich vor dem Start der Flandern-Rundfahrt von den zweiradverrückten Flamen bejubeln lassen. Den kernigen Klassikerspezialisten haben sie hier im Land von «De Ronde» längst ins Herz geschlossen. Sportlich reichte es beim belgischen Nationalheiligtum zwar nie zum großen Wurf, doch mit den Siegen bei Gent-Wevelgem 2014 und dem historischen Erfolg bei Paris-Roubaix 2015 hat Degenkolb seine Spuren hinterlassen.
Um Siege geht es bei dem 34-Jährigen heute nicht mehr. Wenn es ein Fahrer aus seinem DSM-Team unter die besten 20 schafft, ist man zufrieden. «Alles andere ist zu weit weg. Der Leistungsunterschied nach ganz vorn ist einfach zu groß, so realistisch muss man sein», betont Degenkolb. Den Sieg, da sind sich alle Experten einig, werden die großen Drei unter sich ausmachen, namentlich Wout van Aert, Mathieu van der Poel und Tadej Pogacar.
Das Trio ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich der Charakter der Rennen verändert hat. Nicht so sehr das Finale, in dem jeder am Anschlag ist. Vielmehr der Weg dorthin. «Es gibt immer frühere Attacken», sagt Degenkolb. Das Finale werde nun schon 80 oder 100 Kilometer vor dem Ziel eröffnet. Und zwar nicht durch eine Tempoverschärfung der Helfer, sondern durch die Kapitäne persönlich. Wenn man da in einer schlechten Position fährt, kann man fast schon ins Teamfahrzeug steigen. «Das ist beeindruckend», gibt Degenkolb zu. Es gebe einfach Fahrer, die diese Belastung aushalten können.
Die immer härter werdenden Rennen haben Auswirkungen auf die Zeit dazwischen. Fuhr man da vor acht oder zehn Jahren noch längere Trainingseinheiten, so steht nun die Regeneration im Vordergrund. «Man ist vom Wochenende noch so im Eimer, dass es keine lange Einheit braucht», sagt Degenkolb. Zumal die Rennen auf dem Weg zu Ronde und Roubaix im Rhythmus Sonntag-Mittwoch-Sonntag stattfinden.
In seinem Team findet sich Degenkolb in diesem Jahr als einer der Kapitäne wieder. Geplant war das nicht zwingend, er sollte eher dem jungen Nils Eekhoff zur nächsten Leistungssteigerung verhelfen. Doch der Niederländer plagt sich mit Formschwäche und Krankheiten herum, da springt Degenkolb eben ein. Am vergangenen Sonntag fuhr er so beim von apokalyptischem Wetter geprägten Gent-Wevelgem auf Platz zwölf.
Seine eigentliche Aufgabe besteht darin, wenn man so will, die Mannschaft nach bestem zu verschleißen. «Ich muss das Team so aufteilen, dass wir am Ende mit zwei bis drei Fahrern das Finale in Angriff nehmen können», erklärt Degenkolb. Jeder solle seine Aufgabe so erfüllen, «dass er am Ende nicht sagen kann, ich hätte ja noch gekonnt». Die Flandern-Rundfahrt ist dabei so etwas wie die Generalprobe für sein Lieblingsrennen eine Woche später: Paris-Roubaix. «Mal schauen, was da geht. Die Verfassung ist gut, das bleibt hoffentlich so», sagt Degenkolb.
Die Schlagzeilen in Flandern sollen nach dem Willen der Einheimischen ohnehin van Aert gehören. Weder bei der Ronde noch in Roubaix gelang dem Alleskönner bisher ein Sieg. Das soll sich dieses Jahr ändern - und die Chancen stehen gut. Der 28-Jährige gewann den E3 Preis, überließ den Sieg in Wevelgem dann gönnerhaft seinem französischen Teamkollegen Christophe Laporte. Letzteres erzürnte den großen Eddy Merckx. «Es ist seine Entscheidung, aber ich hätte es nicht gemacht. Er hätte in die Geschichte eingehen können», sagte der 77-Jährige. Und auch der dreimalige Flandern-Sieger Tom Boonen schimpfte: «Das wird er noch bereuen.» Gewinnt van Aert allerdings die Ronde, ist der ganze Spott schnell vergessen.