Hamburg (dpa) - Suchtexperte Götz Mundle hat den Radsportlern kurz vor dem Start der Tour de France ein suchtähnliches Verhalten vorgeworfen.
«Viele dieser Athleten sind süchtig nach Erfolg. Ich erkenne das an ihrer mangelnden Wahrnehmung der Gefahren durch leistungssteigernde Mittel», sagte der Chefarzt und Geschäftsführer der Oberbergkliniken in einem Gespräch mit der Deutschen Presse- Agentur dpa. «Da gibt es Parallelen zu Alkohol- oder Drogenabhängigen, die ihre Sucht auch durch unkontrollierten Konsum befriedigen.» Mundle fordert deshalb, dass in manchen Sportarten Leistungsgrenzen definiert werden.
Ein typisches Suchtverhalten zeige sich auch in dem verminderten Unrechtsbewusstsein der gedopten Radprofis. Viele behaupteten von sich, nicht betrogen zu haben, da sie wie jeder anderen gehandelt hätten. «Ich sage aber nicht, dass diese Profi-Sportler süchtig im Sinne einer Krankheit sind. Das müsste man individuell beurteilen», so der Mediziner, der oft Athleten mit Burn-out-Syndrom behandelt.
Mundle ist der Meinung, dass die Sportler im gegenwärtigen System keine Chance haben, dem Erfolgsdruck zu entkommen. Sponsoren, Management und Zuschauer würden immer neue Höchstleistungen erwarten. «Das ganze System Leistungssport ist ein Abbild unserer Gesellschaft und als ein solches süchtig nach Erfolgen. Dabei werden ethisch- moralische und körperliche Grenzen überschritten», sagt Mundle. Die Flut von Doping-Beichten hält er für eine Art von Gesprächstherapie, in der sich Suchtbetroffene ihren Kummer von der Seele reden.
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie glaubt allerdings nicht, dass ein «reinigendes Gewitter» im Radsport ausreicht. Mundle verlangt eine offene Diskussion, die kontinuierlich in den Medien, bei Sponsoren und Sportlern geführt werden müsste. Durch sie sollen Leistungsgrenzen ausgelotet werden. «Die Sportpolitik muss helfen, diese Grenzen zu definieren. Die Athleten müssen aber auch ein neues Bewusstsein für ihren Sport entwickeln», so Mundle.
Die Zuschauer hätten bereits eine andere Vorstellung vom Leistungssport, seien sich dieser aber nicht immer bewusst. «Ein gutes Beispiel dafür, was der Sport in seiner Reinkultur leisten kann, war die Weltmeisterschaft 2006. Hier ist das deutsche Team an seine Grenzen gegangen und hat damit die Herzen der Fans erobert», so Mundle. «Die Begeisterung war auch ohne den Titelgewinn da.»
Gespräch: Tobias Goerke, dpa