Meaux (dpa) - Jan Ullrich hat die Erwartungen nach seinem guten Start in die 90. Tour de France erneut gedämpft. Es ehre ihn, der Favorit des fünfmaligen Tour-Siegers Miguel Indurain zu sein, «aber ganz ehrlich, das wäre eine Riesenüberraschung», urteilte Ullrich über seine Siegchancen in einem Interview mit der französischen Sportzeitung «L'Equipe».
Mit seinem 4. Platz beim Prolog in Paris habe er nicht gerechnet, seine Rückkehr zur Tour nach einjähriger Pause sei «ein echtes Wunder».
Nach zwei Knieoperation sowie seiner Doping-Sperre hatte Ullrich wiederholt erklärt, er fühle sich noch nicht in der Lage, den viermaligen Tour-Gewinner und erneuten Favoriten Lance Armstrong in diesem Jahr herauszufordern. «Wenn man ihm physisch unterlegen ist, reicht keine Taktik, um ihn zu schlagen. Ich brauche noch den Wettbewerb, um mich zu verbessern, ich brauche Duelle», erklärte der Olympiasieger, der die Tour in den kommenden zwei bis drei Jahren aber gern zum zweiten Mal nach 1997 gewinnen würde. Die Bedeutung seines damaligen Erfolgs sei ihm erst im vorigen Herbst richtig bewusst geworden. Damals trafen sich zur Präsentation der Jubiläums- Tour alle noch lebenden Sieger der vor 100 Jahren erstmals ausgetragenen Frankreich-Rundfahrt.
Seit seiner Ankunft in Paris fühle er sich viel ruhiger und heiterer als in den vergangenen Jahren. Erst jetzt könne er nachvollziehen, warum er in seinem Umfeld als verändert und reifer wahrgenommen werde. «Ich bin wie ein neuer Mensch», meinte der junge Vater auch mit Blick auf sein Comeback beim neuen Team Bianchi. Er sei erst 29 Jahre alt, ungefähr im selben Alter hätten der Italiener Marco Pantani nach einem schweren Unfall und Armstrong nach seiner Krebserkrankung zur Top-Form zurück gefunden.
«Ich habe verstanden, dass ich mich nicht mehr mit dem Minimum zufrieden geben kann. Im kommenden Jahr, wenn ich alle meine Mittel wieder zur Verfügung habe, kann ich nicht einfach einen 2. Platz anstreben. Ich muss noch ehrgeiziger sein», sagte Ullrich, der nach eigenen Worten in allmählich geringerem Maß von seinem langjährigen Coach Peter Becker beraten wird. In seinem Training spiele die Intensität inzwischen eine größere Rolle als die Quantität, erläuterte Ullrich.
Eine Rückkehr zum Team Telekom wegen der Schwierigkeiten beim Coast-Rennstall habe für ihn persönlich nicht zur Debatte gestanden. «Andere haben an meiner Stelle daran gedacht, aber das wäre keine Lösung gewesen. Es war eine schöne Zeit in meiner Karriere, ich könnte die Telekom-Mannschaft nie als Feind auffassen. Sie wollten nicht immer sehen, dass ich Anstrengungen unternommen habe, meine Art und Weise zu ändern», sagte Ullrich, der nach wie vor mit dem Olympia-Zweiten Alexander Winokurow, dem Olympia-Dritten Andreas Klöden und dem Italiener Giuseppe Guerini befreundet ist.
Seine Zukunft liege bei Bianchi, betonte der gebürtige Rostocker, auch wenn die Mannschaft noch einen weiteren Co-Sponsor benötige. Während der Tour finden Gespräche mit Sportartikelhersteller adidas und dem französischen Rad-Ausstatter Mavic statt. Nachdem Ullrich im Vorjahr wegen seiner Ecstasy-Affäre gesperrt worden war, hatte adidas seinen mehrjährigen, persönlichen Vertrag mit Ullrich fristlos gekündigt.