Toulouse (dpa) - Die französische Presse feiert die «Rückkehr des Wunderkindes», und Jan Ullrich schwebt «auf Wolke sieben». Nach seinem grandiosen Zeitfahr-Sieg in Indurain-Manier mit 1:36 Minuten Vorsprung auf Lance Armstrong und seinem ersten Pyrenäen-Auftritt, bei dem er weitere 19 Sekunden auf den Seriensieger gut machte, steht der Olympiasieger wieder ganz oben.
«Jetzt bin ich da, wo ich hin wollte und kann jedes Tempo mitgehen. So sind die Strapazen und Quälereien besser zu ertragen», sagte Ullrich. Aus eigener Kraft fand er aus einem tiefen Tal mit Knie- Operationen, Führerschein-Entzug, Doping-Sperre und 14 Monaten Rennpause wieder an die Spitze. Nichts erinnert mehr an das Häufchen Elend, dass Ullrich vor einem Jahr bei seiner im Fernsehen live übertragenen «Drogen-Beichte» abgab. Ganz im Gegenteil: Die spanische Zeitung «ABC» feierten den Deutschen als «Reinkarnation von Miguel Induráin».
Das Wunder von Cap Découverte, wo Ullrich der erste Tagessieg bei der Tour seit fünf Jahren gelang, feierte der viel Gelobte und Umschwärmte im bescheidenen Rahmen in seinem Hotel am Rande des Flughafens von Toulouse. Am Abend nach dem 47 Kilometer langen Zeitfahren gab es zusammen mit der Mannschaft, die sechs Wochen vor der Tour aus der Konkursmasse des Essener Coast-Teams zusammengestückelt wurde, ein Glas Champagner. Das schien dem Bianchi-Kapitän nicht so gut bekommen zu sein. Vor dem ersten Anstieg auf der 13. Etappe musste er einen unfreiwilligen Stopp am Straßenrand einlegen. «Wässriger Durchfall, nichts Gravierendes. Heute ist alles wieder okay», gab Teamarzt Achim Spechter vor dem Start der 14. Etappe in Saint Girons zu Protokoll.
«Jetzt ist alles möglich», sagte Ullrich, nachdem er bei der Bergankunft in der Skistation Ax-3 Domaines dem im Gelben Trikot fahrenden Armstrong noch dichter auf die Pelle gerückt war. Vor der Tour war es fast ein Tabu-Thema, jetzt Realität: Der Olympiasieger, der Armstrong in Sydney zwei Mal bezwang, ist plötzlich erster Kandidat auf den Toursieg. Auch, wenn sein ehemaliger Team-Kollege Andreas Klöden, der vorige Woche ausstieg, im «ZDF-Sportstudio» weiter auf Armstrong tippte.
«Jan oder ich können die Tour gewinnen», sagte der Kasache Alexander Winokurow, ebenfalls Wegbegleiter aus Telekom-Tagen und neben Ullrich die zweite große Überraschung. «Jan ist mein Favorit. Er hat das Niveau von 1996 und 97», sagte Ullrichs alter Teamchef Walter Godefroot, dem der gebürtige Rostocker Ende 2002 zusammen mit Rudy Pevenage den Rücken gekehrt hatte.
Seitdem ist mit dem einstigen Problemfall, dem bei Telekom ein «Babysitter-System» allen Ärger vom Hals halten sollte und fast zur Entmündigung führte, viel passiert. Ullrich ist vier Tage vor Tour- Beginn zum ersten Mal Vater geworden. Was er selbst mit «ich bin reifer geworden» umschreibt, hat viele Facetten. Er hat sein Training umgestellt und sich damit immer mehr von seinem väterlichen Freund aus DDR-Zeiten, Peter Becker, abgenabelt. Um seine neuen Trainingspläne wird ein Geheimnis gemacht. Angeblich ist dafür ein alter Vertrauter von Bjarne Riis in Italien zuständig.
Das Bianchi-Team lebt viel von der Improvisation, nichts erinnert an den reibungslosen Mechanismus in der Telekom-Mannschaft. Das färbt offensichtlich auf Ullrich ab. Er wirkt lockerer und selbstbewusster denn je, und das hat weniger mit seinem aktuellen Tour-Erfolg zu tun. «Einer von uns hat seinen Kindertraum erfüllt», sagte sein Bruder Stefan, früher auch talentierter Radfahrer bei Dynamo Rostock, jetzt Mechaniker im neuen Team.
Improvisations-Talent war vielleicht mit ausschlaggebend für den unerwartet deutlichen Erfolg Ullrichs in seiner Spezial-Disziplin. Obwohl er im Gegensatz zu Armstrong die Hitze liebt, wurde für ihn zum Warmfahren auf der Rolle ein klimatisierter Raum angemietet. Ullrich strampelte zwischen von der Decke hängenden Rädern in einem Fahrrad-Fachgeschäft bei etwa 20 Grad. Draußen war das Thermometer am Startort in Gaillac auf 38 Grad im Schatten geklettert. Der Sieger, der aus der Kälte kam, ließ den «Thron von Armstrong wackeln», wie die «L'Equipe» schrieb.