Hautacam (dpa) - Die Winzigkeit von einer Sekunde hat Topfavorit Cadel Evans das ersehnte Gelbe Trikot beschert.
Der vorjährige Tour-Zweite aus Australien untermauerte bei der ersten Ankunft im Hochgebirge seinen Anspruch, am 27. Juli in Paris den Gesamtsieg der 95. Tour de France feiern zu wollen. Beim Tageserfolg des Italieners Leonardo Piepoli reichte dem am Vortag gestürzten 31-Jährigen Platz acht, um den diesmal in den Pyrenäen schwächelnden Luxemburger Kim Kirchen von der Spitzenposition zu verdrängen und dessen Landsmann Frank Schleck mit einem Vorsprung von einer Sekunde auf den zweiten Rang des völlig umgekrempelten Gesamtklassements zu verweisen.
«Ich hatte gestern einen fürchterlichen Tag. Nach dem Sturz dachte ich, dass die Tour für mich vorbei ist. Deshalb ist das heute für mich ein unbeschreiblicher Tag, aber bis Paris sind es noch viele Kilometer», sagte Evans, der sich am Vortag am Knie, am Ellenbogen und an der Schulter verletzte hatte. In seiner Karriere brach sich der ehemalige Mountainbiker bei Stürzen schon viermal das Schlüsselbein.
Zweiter großer Triumphator am französischen Nationalfeiertag war der Italiener Piepoli, der am Schlussanstieg hinauf zur Skistation Hautacam alle Verfolger abschüttelte und vor seinem spanischen Saunier-Duval-Teamkollegen Juan Jose Cobo Acebo und dem Luxemburger Radprofi Frank Schleck (CSC-Saxo-Bank) nach 4:19:27 Stunden gewann. Einen rabenschwarzen Tag erwischte neben Kirchen, der 4:19 Minuten auf den Tagessieger verlor, auch der spanische Mitfavorit Alejandro Valverde: Der erste Träger des Gelben Trikots in diesem Jahr verlor in der Schlussphase der 10. Etappe über 156 Kilometer 5:52 Minuten und büßte alle Chancen auf den Tour-Sieg ein.
Hinter Evans und Schleck liegen in der «neuen» Gesamtwertung der Amerikaner Christian Vandevelde (+38 Sekunden) und der starke österreichische Gerolsteiner-Profi Bernhard Kohl (+46) als Dritter und Vierter in Lauerstellung. «Es war ein Traum. Dass es so gut läuft, hätte ich nicht gedacht», sagte Kohl, der auch Etappenvierter wurde. «Über den Tour-de-France-Sieg möchte ich nicht reden. Mein Ziel sind weiter die Top Ten.»
Präsent war wieder einmal der von Doping-Gerüchten genervte Berg-Spezialist Riccardo Ricco, der den Sieg seines Team-Kollegen Piepoli angekündigt hatte. «Morgen ist Piepoli dran,» hatte Ricco nach dem Sieg auf der 9. Etappe orakelt. 40 Kilometer vor dem Gipfel des Tourmalet hatten die Favoriten zuvor das Zustandekommen einer siebenköpfigen Spitzengruppe zugelassen. Zu ihr gehörte auch der bisher enttäuschende Markus Fothen vom Gerolsteiner-Team, der im Zeitfahren und den vorigen Bergetappen bereits so viel Federn ließ, dass es für ihn in der Endabrechnung nicht mehr zu einem Platz unter den ersten Zehn reichen dürfte. «Das war ein harter Tag. Die letzten 14 Kilometer gingen ans Limit», meinte er. Nicht nur Fothen dürfte daher der Ruhetag entgegen kommen, um für die 11. Etappe über 167,5 Kilometer am 15. Juli von Lannemezan nach Foix neue Kräfte sammeln zu können.
Am Fuß der ersten großen Kletterpartie hatten Fothen und Co. fast sieben Minuten Vorsprung auf das Hauptfeld. Beim halben Anstieg war der Vorsprung 64 Kilometer vor dem Ziel sogar auf über neun Minuten gestiegen, so dass Fothen bereits im virtuellen Gelben Trikot fuhr. Aber die fast unbeschwerten Zeiten waren für ihn, Zeitfahr-Weltmeister Fabian Cancellara, den dreifachen Weltmeister Oscar Freire und die anderen vier «Flüchtlinge» kurz darauf beendet. Das Feld forcierte auf Initiative von Riccos Saunier Duval-Team das Tempo und ließ den Vorsprung schmelzen. Auf dem 2115 Meter hohen Gipfel des Tour-Klassikers Tourmalet lag Fothen, inzwischen mit Cancellara isoliert, noch rund fünf Minuten vor den ersten Verfolgern.
Der 15 Kilometer lange Schlussanstieg in die Ski-Station Hautacam musste die Entscheidung bringen. Im Rücken der inzwischen zersplitterten Ausreißergruppe, aus der sich der Franzose Rémy di Gregorio alleine abgesetzt hatte, bildete sich dank der Tempo-Arbeit des CSC-Teams unter Führung des Berliners Jens Voigt die entscheidende Formation aus 16 Fahrern. An Prominenz fehlte dort nur Valverde. Di Gregerio wurde 11,5 Kilometer vor dem Ziel geschluckt - und das große Ausscheidungsrennen der Hochkaräter begann.
1996 hatte in Hautacam Toursieger Bjarne Riis, bei dieser Tour Chef des CSC-Saxo-Teams, die Etappe im Telekom-Trikot gewonnen. Der letzte Hautacam-Sieger Javier Otxoa (Spanien), der bei einem Trainingsunfall seinen Zwillingsbruder Riccardo verlor und selbst so schwere Verletzungen erlitt, dass er heute nur noch eingeschränkt leben kann, nahm am Montag die Siegerehrung vor.