Morzine (dpa) - Am Tag danach war der früher so Unnahbare plötzlich umringt von einer Gruppe Hobbyradlern. Der sonst so distanzierte Lance Armstrong ließ sich 19 Stunden nach seinem «Untergang» bei der Tour de France in den Alpen von einer Gruppe Fans ins Teamhotel eskortieren.
Anschließend verschwand er dann aber kommentarlos in der Garage. Bloß nichts sagen, war die Devise des gefallen Tour-Patrons. Dafür unterrichtete sein RadioShack-Teamchef Johan Bruyneel die wartenden Journalisten über die übriggebliebenen Ziele des 38-Jährigen bei der 97. Tour de France: «Lance wird ein Faktor im Rennen sein - als Helfer und für Etappensiege.» Bei seiner Trainingsfahrt am Montag hatte Armstrong sogar den Blick fürs Touristische: «Savoyen ist herrlich», twitterte er.
Doch klar ist: Der Despot verlässt die große Radsportbühne - eine Epoche geht zu Ende. «Meine Tour ist beendet, aber es gibt keine Tränen von mir», sagte Armstrong in Morzine, dem Ort seiner schmerzhaftesten Niederlage als Radprofi. Aus einer Wunde am linken Knie tropfte Blut. Seine 13. - und wie vorher angekündigt - letzte Tour hat dem Rekordchampion brutal vor Augen geführt, wo er mit fast 39 Jahren steht.
11:45 Minuten nach dem Tagessieger Andy Schleck hatte er am 11. Juli das Ziel auf 1796 Metern Höhe erreicht. Eine unfassbare Katastrophe für einen wie Lance Armstrong, dem ein Jahr nach seinem zweiten Comeback das große «Wunder» nicht mehr gelang. In dieser Beziehung hatte der Texaner ohnehin alle Möglichkeiten mehr als ausgereizt. Nach einer Krebsdiagnose 1996 war er 1999 zu «seiner» Tour zurückgekehrt und hatte einen Triumphzug sondergleichen gestartet.
Bis 2005 gewann der allein bei seiner Mutter aufgewachsene Armstrong sieben Frankreich-Rundfahrten in Serie. Viele behaupten, Armstrongs Triumphfahrten seien nicht immer mit lauteren Mitteln zustande gekommen, was der bis zum heutigen Tag Angefeindete stets bestritten hat.
Aber vor seiner Zeit als unerbittlicher «Dominator» hatte er auch herzerweichend beeindruckende Tour-Auftritte. 1995 gewann er zwei Tage nach dem Todessturz seines Teamkollegen Fabio Casartelli nach einer couragierten Solofahrt die Etappe in Limoges. Bei der Zieldurchfahrt zeigte er mit beiden Händen zum Himmel.
Drei Stürze auf der zweiten Alpenetappe waren bei der diesjährigen Tour nur vordergründig mitverantwortlich für das Armstrong-Debakel. «Ich habe überall Wunden, das größte Problem ist die linke Hüfte», sagte der vom Thron gestürzte RadioShack-Kapitän, der die Verantwortung für eine gute Platzierung im Gesamtklassement jetzt auf Levi Leipheimer übertrug. «Das war Armstrongs Begräbnis», stellte die spanische «Marca» am Montag fest.
Armstrongs Flirt mit seinem möglichen achten Toursieg wirkte von Beginn an fast wie eine Anmaßung. «Warum hat er nach seinem dritten Platz im Vorjahr nicht aufgehört», fragte sich nicht nur der ehemalige T-Mobile-Profi und Ivan-Basso-Manager Giovanni Lombardi.
Auch der große Eddy Merckx drehte seinerzeit mindestens eine Runde zu viel. Bei seiner letzten Tour wurde der Belgier 1977 auf Rang sieben gedemütigt. Vorher hatte er auf dem Glandon in den Alpen - ähnlich wie Armstrong 33 Jahre später - sein Waterloo erlebt.
Armstrongs Scheitern begann bereits mit dem 2:08-Minuten-Verlust zum Tagessieger auf der Kopfsteinpflaster-Etappe nach Arenberg am vierten Tag. Wieder waren auch Stürze schuld. In seinen Glanzzeiten hatte er Unfälle weitgehend vermeiden können. Seit dem Comeback im Januar 2009 war er aber neunmal in Stürze verwickelt.
Im Ziel in Morzine-Avoriaz war es aber noch einmal wie früher: Als Armstrong, diesmal als der große Verlierer, ins Ziel rollte, setzte ein unglaublicher Run ein. Fans, Reporter, Kameraleute - alle wollten nur zu ihm und verwandelten die Umgebung des Teambusses in eine Chaos-Zone. Seine Bodyguards hatten alle Hände voll zu tun.
Der Geschlagene will die beiden restlichen Wochen der Tour «genießen». Fragt sich nur wie: Hat Armstrong noch die Kraft, eine Etappe zu gewinnen? Würde ihn die Konkurrenz, die er in Zeiten seiner Dominanz oft düpierte, bei einer Attacke ziehen lassen - womöglich gar aus Mitleid? Dies zumindest kann sich Milram-Kapitän Linus Gerdemann «nicht vorstellen». Oder setzt Armstrong auf den letzten Metern seiner Karriere gar alles daran, Andy Schleck zum Sieg zu verhelfen, um Intimfeind Alberto Contador die Tour zu vermasseln? =Wenigstens diese Spannung bleibt.
«Ich weiß nicht, ob er in Paris ankommen will oder ob das seinen Stolz anstachelt, und er noch eine Etappe gewinnen will», fragt sich Christian Prudhomme - der Tour-Chef ist gespannt auf die letzten Aktionen des einstiges Bosses, der diese Rolle im Feld schon vor seinem rabenschwarzen Tag in den Alpen nicht mehr ausfüllte. Den ersten Ruhetag begann Armstrong mit der Twitter-Meldung an die Welt: «Ich fühle mich heute Morgen ein wenig eingerostet.»