Laval (dpa) - Es ist gerade einmal acht Monate her, da brach Mark Cavendish nach dem Klassiker Gent-Wevelgem während eines Interviews im belgischen Fernsehen in Tränen aus. Es könnte sein letztes Rennen gewesen sein, sagte der hochsensible Radstar damals.
Abgehängt, demoralisiert und desillusioniert hatte er zuvor das Ziel erreicht. Sein Team Bahrain-McLaren hatte ihm zuvor schon mitgeteilt, dass sein Vertrag nicht verlängert wird. Wer will sich schon in Corona-Zeiten einen kostspieligen Mann für die Siege leisten, dessen letzter Sieg gut zweieinhalb Jahre zurücklag?
Als Cavendish bei der Tour de France in Fougères wieder hemmungslos weinte, waren es Tränen des Glücks. Der Mann von der Isle of Man hatte es tatsächlich noch einmal geschafft - sein Comeback auf großer Bühne war vollendet. Cavendish war zu seinem 31. Etappensieg gerast, fünf Jahre nach seinem letzten Erfolg bei der Frankreich-Rundfahrt. «Ich hatte eine schwierige Zeit. Viele Leute haben mir den Rücken zugewendet. Ich war ein bisschen in einem Loch», berichtete der 36-Jährige. «Ich hoffe, dass meine Geschichte den Menschen Hoffnung gibt, die sich in einer ähnlichen Situation befinden.» Für ihn sei es eigentlich nur darum gegangen, wieder bei der Tour zu sein. Er müsse niemandem mehr etwas beweisen.
Sein 152. Karriere-Sieg war wohl sein süßester nach all diesen Rückschlägen. Am Pfeifferschen Drüsenfieber war er erkrankt, mentale Probleme seien dazugekommen neben all den sportlichen Rückschlägen wie den schlimmen Stürzen bei der Tour 2014 und 2017. Die letzten beiden Jahre war er für das wichtigste Radrennen gar nicht mehr berücksichtigt worden. Was für eine Demütigung für den Mann mit dem großen Ego, den Weltmeister von 2011.
Nur Teamchef Patrick Lefevere erinnerte sich daran, dass er mit Cavendish mal zwei richtig erfolgreiche Jahre erlebt hat. Der Belgier holte den Sprinter zurück ins Deceuninck-Quick Step-Team und baute ihn auf, wie er es einst mit Marcel Kittel gemacht hat. «Als ich ihn am Abend von Gent-Wevelgem weinen sah, habe ich mir gesagt: Ich habe nicht das Recht, ihn auf der Straße zurückzulassen. Nicht ihn, nicht Mark Cavendish», sagte Lefevere der Sportzeitung «L'Equipe».
Ähnliches habe er schon bei Philippe Gilbert, dem Weltmeister von 2012, erlebt. «Champions, die am Ende ihres Weges sind, haben diese emotionale Stärke, um sich davon zu überzeugen, dass es noch nicht vorbei ist», sagte Lefevere.
So ging es für Cavendish Schritt für Schritt zurück nach oben. Vier Siege bei der Türkei-Rundfahrt brachten Selbstvertrauen, weitere ordentliche Resultate kamen dazu, auch ein Etappensieg bei der Belgien-Rundfahrt. Und als dann Sam Bennett, der Sprinter Nummer eins im Team, wegen einer Knieverletzung für die Tour absagte, war die Zeit von Cavendish gekommen. Er sei nervös wie ein Junior gewesen.
Und nun? Drei Tour-Etappensiege fehlen Cavendish noch zum Uralt-Rekord von Legende Eddy Merckx. «Ich habe gerade erst gewonnen und erklärt, wie schwer es ist, eine Tour-Etappe zu gewinnen. Und ihr stellt mir solche Fragen», sagte Cavendish den Journalisten und verschwand.