Santander (dpa) - Odd Christian Eiking ist stolz. Seit fast einer Woche trägt der bis dahin weitgehend unbekannte Norweger schon das Rote Trikot des Führenden bei der Spanien-Rundfahrt der Radprofis.
Und jeden Tag berichtet der nette Mann aus dem hohen Norden, dass dies alles «außerhalb der Erwartungen» sei und wie «großartig» die Erfahrungen doch sind. Über die Erlebnisse bei seiner letzten Vuelta-Teilnahme vor vier Jahren spricht Eiking dagegen nicht so gern. «Ich möchte mich auf die Gegenwart konzentrieren und den Moment genießen», heißt es dann.
2017 war Eiking - auf dem 48. Platz liegend - vor der Schlussetappe in Madrid «wegen unangemessenen Verhaltens» von seinem französischen Team FDJ aus dem Rennen genommen worden. Zwei Bier mit seinem schwedischen Teamkollegen Tobias Ludvigsson habe er in einer Bar getrunken, hatte Eiking damals dem norwegischen Sender TV2 erklärt. Er sei zwar nicht um 23.00 Uhr im Bett gewesen, aber es sei auch nicht so spät geworden. Teamchef Marc Madiot hatte damals eine andere Version der Geschichte. «Wenn es nur zwei Bier gewesen wären, wäre er morgens nicht betrunken gewesen», sagte der Franzose der Zeitung «Aftenposten».
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Für den damals 22-jährigen Eiking endete mit der Vuelta ohnehin die Zeit bei FDJ, einen neuen Vertrag hatte er nicht mehr bekommen. Der Mann aus Stord zog weiter nach Belgien zum damals noch zweitklassigen Team Wanty Gobert und rollte im Profizirkus auf bescheidenem Niveau mit. Zwei Siege in vier Jahren folgten noch, womit er nicht einmal in seiner Heimat Schlagzeilen produzierte.
Bis Eiking am vergangenen Dienstag zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Der 138. der Weltrangliste erwischte eine große Ausreißergruppe, fuhr elfeinhalb Minuten auf Superstar und Topfavorit Primoz Roglic heraus und wurde in der Gesamtwertung auf den ersten Platz gespült. Eine große Gefahr hatten Roglic und die restlichen Favoriten in Eiking offenbar nicht gesehen, sie ließen ihn jedenfalls gewähren.
Das kann auch schnell nach hinten losgehen. 2006 hatte der Spanier Oscar Pereiro bei der Tour de France eine halbe Stunde auf die Stars der Szene herausgefahren. Bis Paris hielt er sich auf dem zweiten Platz, und nach der Disqualifikation von Floyd Landis wegen Dopings war Pereiro plötzlich Tour-Champion.
Kaum Zeit verloren
Dass sich die Geschichte bei der Vuelta wiederholt, damit rechnet Eiking nicht. «Ich glaube nicht, dass es gegen Fahrer wie Primoz Roglic und den anderen Namen möglich ist. Aber man weiß es nie.» Auf den beiden Bergetappen am Wochenende hat er jedenfalls kaum Zeit verloren. 54 Sekunden liegt Eiking vor der dritten und letzten Woche vor dem Franzosen Guillaume Martin und 1:36 Minuten vor Roglic. Martin, der 2018 und 2019 Teamkollege von Eiking war, hält nichts mehr für ausgeschlossen. «Er war nicht immer konstant. Aber wenn er gut war, dann super-gut.»
Eiking geht davon aus, dass er das Trikot am Mittwoch in den Bergen von Asturien verlieren wird. Wenn nicht, könnte es am Schlusstag in Santiago de Compostela zum Showdown im Einzelzeitfahren kommen. Dann wird sich Eiking ganz sicher nicht zwei Biere am Vorabend genehmigen.