Brüssel (dpa) - Alles Zittern half nichts, das erste Gelbe Trikot seines Lebens glitt Tony Martin durch die Hände. Doch der Trost seiner Freundin Nina - ein gehauchter Kuss auf die Wange - wirkte wie ganz besonderer Balsam.
Zehn Sekunden hatten dem 25-jährigen Radprofi aus Eschborn beim Tour-Auftakt zum Sprung an die begehrte Pole-Position der 97. Tour de France gefehlt. Mehr als drei Stunden zwischen Hoffen und Bangen lagen hinter dem verliebten Pärchen.
Martin hatte beim 8,9 Kilometer langen Prolog in Rotterdam früh die Bestzeit von 10:10 Minuten vorgelegt und durfte sich bis zum Start des vorletzten Fahrers wie der Sieger fühlen. «Ich im Gelben Trikot und unsere Fußballer im Halbfinale - das wäre fantastisch für Deutschland gewesen». Das war sein erster Stoßseufzer, nachdem Fabian Cancellara ins Gelbe Trikot gefahren war und Martin nur das Weiße des besten Nachwuchsfahrers übrig gelassen hatte.
Nach Martins rasanter Fahrt parallel zum einsetzenden Torrausch der deutschen Elf bei der Fußball-WM musste der Columbia-Profi zunächst auf dem «heißen Stuhl» in Reichweite der Doping-Kontrolleure verharren. Dann gab er seine Probe ab und durfte in den Mannschaftswagen, in dem er vor dem TV-Gerät zum Fußballfan wurde.
Lange, nachdem der deutsche Sieg in Kapstadt festgestanden hatte, schoss der große Favorit und einmal mehr unbezwingbare Cancellara über den Zielstrich auf dem Zuidplein. Der Schweizer Olympiasieger war zehn Sekunden schneller als Polizeimeister Martin. Die Fürsorge seiner blonden Partnerin, mit der Martin kürzlich in Cancellaras Heimat nach Kreuzlingen umgezogen war, kam zur rechten Zeit.
«In den ersten Minuten war ich enttäuscht, weil ich wirklich eine realistische Chance auf Gelb hatte. Aber dann habe ich mich gefreut - Cancellara hat eine Superleistung gezeigt», sagte Martin und sieht den Spielraum, den er sich eröffnet hat: «Wenn ich die erste Woche durch Belgien und Nordfrankreich gesund überstehe, kann ich vielleicht am kommenden Samstag auf der ersten Alpenetappe Gelb holen». Bergfest ist er allemal. 2009 bei seinem Tour-Debüt demonstrierte er beim Aufstieg auf den Mont Ventoux mit Rang zwei hinter Manuel Garate Kletterqualitäten.
Mit einem Start am Nachmittag als erster Columbia-Fahrer wollte Martin der Konkurrenz ein Schnippchen schlagen und den prognostizierten Niederschlägen ausweichen. Die Rechnung ging nicht ganz auf. Bei seinem Start - das 1:0 für Deutschland durch Thomas Müller war bereits gefallen - begann es zu nieseln. Nach seiner Fahrt vorbei an rund 500 000 lärmenden Zuschauern in Oranje folgte der große Regen.
Bei Cancellaras Auftritt am Abend war der Parcours schon fast abgetrocknet. «Natürlich ist Tony nicht volles Risiko gegangen. In den Kurven musste er stark abbremsen. Aber egal, Fabian war heute saustark», sagte Columbia-Teamchef Rolf Aldag. Auch nach dem Rennen gehörte Martin zum Kreis der ganz Großen. Wie Olympiasieger Cancellara, der seinen vierten Tour-Prolog gewann, oder Seriensieger Lance Armstrong musste er sein Dienstfahrzeug einer besonderen Kontrolle unterziehen lassen.
Aufgeschreckt durch einen Beitrag des italienischen Fernsehens über mögliches «Motor-Doping» mit verstecktem Batterie-Antrieb werden bei der Tour zum ersten Mal die Räder gescannt. Fünf bis 15 Fahrer werden jeden Tag dazu bestimmt.