Tokio (rad-net) - Anna Kiesenhofer hat nach ihrem Olympiasieg im Straßenrennen ihre Ungläubigkeit über den Erfolg zum Ausdruck gebracht. Die Österreicherin erklärt, niemals mit dem Titel gerechnet und stattdessen auf eine Platzierung unter den Top-25 spekuliert zu haben, bevor sie nach einem überraschenden Rennen schließlich Olympisches Gold erhielt.
Kiesenhofers Triumph auf den Straßen Tokios ist der Höhepunkt einer eher ungewöhnlichen Geschichte. Die 30-Jährige ist keine hauptberufliche Athletin und gehört keinem professionellen Team an, stattdessen verfolgt die Fahrerin eine akademische Karriere als promovierte Mathematikerin und managt den Sport allein. «Ich bin nicht eine dieser Fahrerinnen, die nur in die Pedale tritt. Ich bin auch die Strategin hinter meinen Performances.»
Auch in der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele hat die Fahrerin auf Selbstständigkeit gesetzt und dabei den österreichischen Nationalverband weitestgehend außen vor gelassen. Kiesenhofer beschreibt sich selbst als antiautoritär und entscheidungsliebend, weshalb sie die hierarchischen Strukturen eines Verbandes ablehnt: «Da ist immer die Gefahr – und dem bin ich selbst zum Opfer gefallen – dass man, wenn man jünger ist und nicht allzu viel weiß, an einen Coach oder irgendjemand anders gerät, der sagt: 'Ich weiß das und du musst das so machen und das wird für dich funktionieren.' Ich war selbst in dieser Position und ich habe Leuten geglaubt. Jetzt bin ich älter, 30 Jahre alt, und ich habe gelernt, dass die Leute, die sagen, dass sie es besser wissen, eigentlich gar nichts wissen.»
Diese individuelle Herangehensweise hat im Vorlauf der Olympischen Spiele dafür gesorgt, das Kiesenhofer unter dem Radar des professionellen Fahrerinnenfeldes blieb. Die mangelnde Aufmerksamkeit ging sogar soweit, dass die Flucht des Underdogs bis zum Ziel von einigen im Feld unbemerkt blieb und Kiesenhofer schließlich Gold gewann.
«Auf dem Papier bin ich Amateurin, aber der Radsport nimmt einen großen Teil meines Lebens ein. Ich verdiene damit kein Geld… Ich meine nicht besonders viel, ich habe ein normales Einkommen halt, aber in meinem Kopf nimmt der Sport einen Großteil meines Lebens ein. Seit anderthalb Jahren war ich nur auf den heutigen Tag fokussiert», berichtete die frischgebackene Olympiasiegerin gestern, die sonst beruflich an einer schweizerischen Hochschule unterrichtet. «Ich habe heute alles dafür geopfert, ein gutes Ergebnis zu erzielen. Dabei hatte ich an den 25. Platz als gutes Ergebnis gedacht und habe alles für den 25. Platz geopfert, jetzt also den Sieg zu feiern, ist ein unglaublicher Preis dafür.»
Trotz des größten Erfolgs ihrer persönlichen Sportgeschichte, erklärte Kiesenhofer bereits gestern, an ihrem Leben nichts ändern zu wollen. Die Olympiamedaille schenke ihr vor allem Bestätigung und Selbstvertrauen, dass ihr Weg der beste für sie sei: «Ich glaube, die größte Veränderung wird in mir, in meinem Charakter stecken. [...] Was sich an meinen Umständen ändern wird, weiß ich noch nicht. Ich werde meinen Job behalten und weiterhin so fahren, wie vor dem Sieg. Aber in Sachen Selbstvertrauen bin ich ein anderer Mensch, denke ich.»