Sanremo (dpa) - Peter Sagan donnerte seine Trinkflache auf den Asphalt, John Degenkolb wäre mit einem aufdringlichen Souvenirjäger fast aneinandergeraten. Die Plätze zwei und sieben auf der Via Roma sorgten bei den gescheiterten Topfavoriten für zunächst erhebliche Frustrationen.
Ihr Bezwinger Michael Kwiatkowski feierte seinen ersten Erfolg beim Frühjahrs-Klassiker Mailand-Sanremo dagegen eher dezent. «Das halbe Feld denkt, Peter ist von einem anderen Stern und unschlagbar. Ich kenne ihn aus Juniorenzeiten und habe auf der Zielgeraden ein bisschen mit ihm gespielt», sagte der Ex-Weltmeister aus Polen.
Degenkolb wurde nach dem Zieleinlauf fast handgreiflich, nachdem ein Zuschauer dem Radprofi aus Oberursel die Trinkflasche vom Rad gerissen hatte. Sagan schaute sich nach beinharten 291 Kilometern in der TV-Box der Journalisten hinter dem Zielstrich erst in scheinbarer Ruhe drei-, viermal das für ihn tragische Finale an. Dann bekam er seinen kleinen Wutanfall und stürmte Richtung Mannschaftsbus davon.
Aber beide beruhigten sich schnell. Degenkolb schrieb hinter dem alten Bahnhof von Sanremo schon bald wieder Autogramme und analysierte ernst die verpasste Chance auf seinen zweiten Sieg nach 2015. «Ich hatte einfach nicht die Beine, Sagans entscheidende Attacke am Poggio mitzugehen. Aber ich verstecke mich jetzt nicht unter der Bettdecke und werte das erstmal als guten Auftakt für die kommenden Klassiker.»
Der zweimalige Weltmeister Sagan, mit Sicherheit der stärkste Fahrer im Peloton, aber eben nicht der Sieger, freute sich schon bald wieder zu Recht über «die gute Show», die er wohl geboten habe. Er konnte schon wieder flachsen und forderte Kwiatkowski auf: «Zumindest schuldest mir ein paar Biere.»
Etwa einen Kilometer vor dem Gipfel des Poggio, der letzten 162 Meter hohen Erhebung 5,3 Kilometer vom Ziel entfernt, trat der Slowake mächtig an. Nur Kwiatkowski und der Franzose Julian Alaphilippe konnten mühsam folgen. Sagan stürmte den Scheitelpunkt, stürzte sich in die anspruchsvolle Abfahrt und setzte zu sehr auf seine vermeintliche Unbezwingbarkeit im Schlussspurt.
Der 27-Jährige, der seit Saisonbeginn im neuformierten Bora-hansgrohe-Team von Sieg zu Sieg eilt, hatte die Rechnung aber ohne den Polen gemacht. Sagan eröffnete den Spurt etwa 300 Meter vor dem Ziel von der Spitze. Was niemand für möglich hielt, am allerwenigsten das Kraftpaket selber: Kwiatkowski konnte ihn auf den letzten Metern noch passieren. Da half selbst ein Tigersprung, nachdem er fast zu Fall gekommen wäre, Sagan nichts mehr.
Sein Teamchef Ralph Denk traute sich nur ganz leise Kritik zu äußern: «Vielleicht hat er zu sehr auf seine Urgewalt gesetzt.» Kwiatkowski fand einen anderen Grund, warum Sagan seinen überragenden Tag nicht entsprechend abschließen konnte: «Vielleicht war der Druck seines WM-Trikots zu groß, die riesigen Erwartungen. Ich habe vor drei Jahren ähnliches erlebt.»
Ex-Weltmeister Kwiatkowski war auf den letzten Kilometern in einer komfortablen Situation. Kurz hinter ihm fuhr in der Verfolgergruppe mit Degenkolb auch sein spurtstarker Teamkollege Elia Viviani, der als Siegkandidat hätte einspringen können, wenn die dreiköpfige Spitzengruppe noch gestellt worden wäre. Ähnliches traf auf Alaphilippe mit Fernando Gaviria als Joker zu. Sagan, der keinen Teamkollegen als möglichen Ausputzer zur Stelle hatte, musste also bedingungslos fahren. Taktieren verboten.
Und Kwiatkowski produzierte endlich wieder positive Schlagzeilen für sein Sky-Team. In den letzten Monaten hatten die Briten wegen des semiprofessionellen Krisenmanagements zur ominösen Medikamenten-Lieferung an Bradley Wiggins alles andere als gut ausgesehen.