Bergen (dpa) - Der Wohlfühlfaktor könnte für Tony Martin kaum größer sein. Nach vielen Jahren ist er zurück in seinem «Lieblingsland» Norwegen, mit dem er seit den Kindheitstagen faszinierende Touren im Wohnmobil mit «Angeln und Pilze sammeln» verbindet.
Und auch die Form sei optimal. «Mit solchen Beinen bin ich schon Weltmeister geworden», sagt Martin vor dem Einzelzeitfahren bei der Straßenrad-WM am Mittwoch in Bergen. So ist eigentlich alles angerichtet für Titel Nummer fünf, wäre da nicht dieser Mount Floyen, ein 3,4 Kilometer langer Schlussanstieg mit durchschnittlich 9,1 Prozent Steigung.
«Der Knackpunkt ist nach wie vor die Strecke, da werden auch die besten Beine der Welt nichts daran ändern, dass ein Chris Froome und ein Tom Dumoulin Weltklasse-Kletterer sind und ich eben nicht», räumt Martin ein und hakt einen erneuten Weltmeister-Titel ab. Bronze ist daher die Zielstellung, das sei schon schwer genug.
Immerhin sei der «worst case» nicht eingetreten, berichtet Martin von den ersten Trainingsfahrten. So schwer der Berg auch ist, ist er doch relativ gleichmäßig im Anstieg. Keine extremen Rampen, die Gift für Martins Fahrweise wären. So ist die Marschroute für den nur 31 Kilometer langen Kampf gegen die Uhr klar. Bis zum Fuße des Berges will Martin die Bestzeit hinlegen, um dann bei der Kletterpartie so wenig Zeit wie möglich zu verlieren.
Für Martin ist die Kürze der Strecke «einer WM unwürdig». Und dass der Weltverband UCI vor dem Anstieg eine Wechselzone eingerichtet hat, um die Zeitfahrmaschine mit dem Straßenrad tauschen zu können, sei «Wischi-Waschi». Er werde wohl darauf verzichten. «Radwechsel, Zeitverlust, Rhythmuswechsel, andere Sitzposition - das sind mir zu viele Negativaspekte», betont der Wahl-Schweizer. Im deutschen Team gehen die Meinungen darüber auseinander. Jasha Sütterlin will sein Rad auf jeden Fall tauschen. Er komme vom Cross und sei darin recht fix.
Nikias Arndt als dritter deutscher Fahrer hat sich noch nicht endgültig festgelegt. Wohl aber die Frage des Siegers ist für ihn klar. Er glaube, dass sein Sunweb-Teamkollege Dumoulin das Rennen machen werde. Der niederländische Giro-Sieger zählt zusammen mit Tour- und Vuelta-Champion Froome zu den großen Favoriten. Natürlich hoffe er auch, dass Martin gut den Berg hochkommt, schob Arndt nach.
Berg hin oder her, auch sonst sind die Zeitfahren in diesem Jahr längst nicht mehr Martins große Domäne. Seit seinem WM-Titel vor einem Jahr in Doha hat er kein internationales Zeitfahren mehr gewonnen, auch beim verregneten Tour-Auftakt in Düsseldorf wurde sein Traum von Gelb weggespült. Eine Erklärung für die Ergebnis-Krise habe er noch nicht gefunden. Zu schaffen macht es ihm trotzdem. «Sicher habe ich gerade mental ein paar Probleme, wenn man einmal aus dem Sieges-Flow raus ist. Es fällt schwer, wenn man vorher alles gewonnen hat, dann wieder nach oben zu kommen.»
So sei seine erste Saison im Katusha-Trikot vom Sportlichen her «mau» gewesen. «Ich muss überlegen, was ich für das kommende Jahr ändern werde, dass es erfolgreicher laufen wird», sagt Martin. Trotzdem habe der Teamwechsel von Quick-Step zum früheren russischen Skandal-Rennstall auch positive Aspekte gehabt. «Es war zwischenmenschlich gesehen eine tolle Saison», sagt Martin und freut sich, dass in Marcel Kittel ein weiterer Freund zur neuen Saison hinzukommt.