Geelong (dpa/rad-net) - Mit so viel berechtigtem Optimismus ist selten eine deutsche Delegation zu einer Straßenrad-WM gereist. «Wir sind in allen Rennen aussichtsreich vertreten - ich rechne mit zwei bis drei Medaillen», sagte Verbands-Vize Udo Sprenger vor den in Geelong bei Melbourne beginnenden Rennen.
Die größten Hoffnungen ruhen auf Tony Martin, der im Elitezeitfahren eigentlich - wie immer - nur Titelverteidiger Fabian Cancellara (Schweiz) fürchten muss. Bei günstiger Konstellation hat der Eschborner auch im Straßenrennen zum WM-Abschluss am Sonntag über schwere 259,9 Kilometer seine Chancen.
«Mein Ziel ist das Podium. Wenn Fabian in Topform ist, wird man ihn nicht bezwingen können», sagte der deutsche Zeitfahrmeister Martin vor der Abreise nach Down Under und stapelte etwas tief. Im Windkanal in Silverstone hatte sich der WM-Dritte von 2009, seinen ersten ProTour-Sieg bei der Eneco Tour im Rücken, speziell auf die 45,4 Kilometer vorbereitet. Im Straßenrennen könnte seine Stunde schlagen, wenn sich der Kurs für die Sprinter-Elite um den fünffachen Tour-Etappensieger Mark Cavendish und seinen Intimfeind André Greipel als zu schwer erweisen sollte und am Schluss nur noch Allrounder wie Topfavorit Philippe Gilbert (Belgien) oder Filippo Pozzato (Italien) am Ball sind.
Auch die Frauen des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR) sind voller Hoffnung. Für die amtierende deutsche Zeitfahrmeisterin Judith Arndt sind die Prüfungen in Geelong so etwas wie Heimrennen. Die 34-jährige Weltmeisterin von 2004 lebt seit einiger Zeit in Australien. «Sowohl im Zeitfahren als auch im Straßenrennen sind Medaillen unser Ziel», meinte Bundestrainer Thomas Liese, der neben der Ex-Weltmeisterin mit Charlotte Becker und Trixi Worrack weitere heiße Eisen im Feuer hat. Für Sarah Düster aus Wangen dagegen ist die WM bereits beendet. Beim WM-Vorbereitungsrennen hat sie sich bei einem Sturz so verletzt, das ein Start unmöglich ist.
Bei den Männern U23 kann Bundestrainer Patrick Moster ebenfalls auf eine starke Mannschaft setzen. Im Zeitfahren zählt der Thüringer Marcel Kittel zu den Favoriten, im Straßenrennen setzt das deutsche Team auf John Degenkolb. «Das Ziel ist ganz klar Medaillen. Allerdings wird es sehr sehr schwer. Die Konkurrenz ist groß und es kann immer etwas passieren», so Moster.
Ohne die Tour-de-France-Protagonisten Alberto Contador und Andy Schleck und mit einem australischen Titelverteidiger Cadel Evans ohne aktuellen Formnachweis schnuppern die Italiener beim WM-Finale mal wieder Morgenluft. «Wenn Typen wie Cavendish am Ende noch dabei sind, hätten wir uns in unseren Prognosen, dass das kein Sprinter-Kurs ist, gründlich getäuscht», sagte Doppelweltmeister Paolo Bettini nach ersten Inspektionsrunden auf dem schweren Kurs in Geelong.
Der kleine Olympiasieger von Athen hatte als Nationaltrainer die Nachfolge des tödlich verunglückten Franco Ballerini angetreten und musste sich bei der Auswahl seiner Equipe prompt die Kritik von Ex-Weltmeister Mario Cipollini gefallen lassen. Der einstige Topsprinter prophezeite Bettini ähnlichen «Erfolg» wie die italienischen Fußball-Nationalmannschaft in Südafrika. Gilbert, der Spanier Oscar Freire - der den Rekord des vierten Titelgewinns anstrebt - und Thor Hushovd aus Norwegen gelten als die härtesten Konkurrenten der Azzurri, die von Pozzato und dem frisch gekürten Vuelta-Sieger Vincenzo Nibali auf den Achterbahn-Kurs mit über 3700 Höhenmetern geführt werden.
Das neunköpfige BDR-Team, das acht Tage zur Akklimatisierung Zeit bekam, setzt auf Greipel als Kapitän. Der Rostocker ist gerechnet nach Einzelerfolgen mit 21 Saisonsiegen der erfolgreichste Profi der Welt. Greipel selbst, der nicht zuletzt wegen Cavendish das Team HTC Columbia in Richtung Belgien verlässt, ist bescheidener: «Weltmeister zu werden ist nicht unmöglich, aber es bleibt ein Wunschtraum - nächstes Jahr in Kopenhagen haben wir eher einen Sprinterkurs». Der letzte deutsche Profi-Weltmeister Rudi Altig (1966) wartet immer noch auf einen Nachfolger.