Barcelona (dpa) - Zwölf Jahre nach der Kletter-Show von Jan Ullrich ins Gelbe Trikot könnte der Anstieg nach Andorra-Arcalis wieder zum Schicksalsberg werden - und die spannendste Frage der 96. Tour de France beantworten. Wie stark ist Astana-Anführer Lance Armstrong wirklich?
Kann der Rückkehrer seinen Co-Kapitän Alberto Contador nicht nur mit Worten, sondern auch mit den Beinen in die Schranken verweisen? «Das frage ich mich, das fragt Ihr Euch, das fragt sich jeder», meinte Armstrong, der seinen Radsport-Fans vor der ersten Pyrenäen-Etappe versprach: «Ich werde gut sein.»
Seinen teaminternen Rivalen Contador kann der Tour-Rekordsieger mit derlei vollmundigen Ankündigungen aber wohl nicht beeindrucken. Zu heiß ist der Spanier darauf, nach der Fahrt durch sein Heimatland für Klarheit in der Astana-Hierarchie - und damit in der Tour - zu sorgen. «Ich kann es kaum erwarten, in die Berge zu kommen, weil sie mein Territorium sind», sagte der Tour-Champion von 2007. Ob ihm aber Astana-Teamchef und Armstrong-Kumpel Johan Bruyneel beim Anstieg zum 2240 Meter hohen Andorra-Arcalis freie Fahrt gewähren wird, ist fraglich. Nach Armstrongs furioser Vorstellung auf den ersten Etappen könnte der Routinier in der Astana-Führung einen Bonus gegenüber Contador haben, so dass dem jungen Herausforderer eine Attacke am Berg vielleicht aus taktischen Gründen verboten wird.
Dies war im Team Telekom vor zwölf Jahren anders. Am 15. Juli 1997 bremste Teammanager Walter Godefroot den bärenstarken Ullrich nicht mehr aus und ließ ihn von der Leine. Der damals 23-Jährige stieg neun Kilometer vor dem Gipfel kurz aus dem Sattel, trat an und flog in Andorra zu seinem ersten Tour-Etappensieg. Dort tauschte er das Jersey des deutschen Meisters mit dem Gelben Trikot und der Telekom-Machtkampf mit Bjarne Riis war entschieden. Aus dem «superloyalen Kronprinz» Ullrich, so der damalige Teamkollege und heutige Columbia-Sportdirektor Rolf Aldag, wurde der neue Leader und spätere «König der Tour» («Le Parisien»).
Was Ullrich vor zwölf Jahren gelang, will nun Contador nachmachen. Und die Parallelen sind offensichtlich: Wie Ullrich bestreitet er im Trikot des Landesmeisters die Tour, wie Ullrich ist er mehr als zehn Jahre jünger als sein stallinterner Kontrahent. Auch bei Aldag, der wie Riis vor zwei Jahren Doping zu Magenta-Zeiten zugegeben hat, kommen angesichts dieser Ausgangslage die Erinnerungen zurück. Ob Armstrong das gleiche Schicksal erleiden könnte wie damals der etatmäßige Telekom-Kapitän Riis, wollte Ullrichs langjähriger Helfer aber nicht prognostizieren: «Lance Armstrong ist jetzt natürlich in der Position, dass er in erster Linie mit Contador mithalten kann, will, muss. Da bin ich gespannt, wie sie das intern regeln.»
Allerdings erwartet Aldag nicht, dass es bei der ersten Standortbestimmung in den Bergen «Riesen-Zeitabstände» geben wird. «Wenn man mal nach der Stelle, wo Jan Ullrich 1997 attackiert hat, seinen Rhythmus gefunden hat, würde ich sagen, bleiben die Besten schon an den Besten dran», meinte Aldag.
«Ich war mit dabei und war über dem vorletzten Berg abgehängt», schilderte Aldag die Situation in Andorra 1997. Er sei den Anstieg nach oben getaumelt und konnte es erst abends im TV sehen: «Ich hatte den Eindruck, er ist einen anderen Berg hochgefahren als ich. Er ist mit der doppelten Geschwindigkeit da hochgefahren, das werde ich nie vergessen», erinnerte sich Aldag. «Was für ein Kaliber, der gewinnt die Tour mehrmals,» prophezeite der damals wegen seiner Krebs-Erkrankung fehlende Lance Armstrong. Er selbst war später Schuld daran, dass er mit dieser Ullrich-Prognose falsch lag.