Sallanches (dpa) - Um 21.11 Uhr platzte der Motorrad-Kurier der Tour-Organisation ins Mannschafts-Essen des Telekom-Teams. Der Mann in grün brachte das rot-weiß gepunktete Berg-Trikot für Rolf Aldag.
Der 1,93 Meter große Westfale, nicht das, was man eine «Bergziege» nennen würde, trägt die Auszeichnung als dritter deutscher Radprofi nach Jens Voigt und Marcel Wüst in Vertretung für Richard Virenque. Der Franzose hatte die erste Alpen-Etappe der diesjährigen Jubiläums-Tour nach Morzine vor Aldag gewonnen und das Gelbe Trikot von Victor Hugo Pena aus Kolumbien übernommen. Ausgerechnet auf der Königsetappe nach L'Alpe d'Huez kann sich das Telekom-Urgestein aus Beckum, der zu Hause auf seinem Bauernhof neuerdings Galloway-Rinder züchtet, als König der Berge fühlen.
«Ich fahre mit Regenjacke, auch bei 40 Grad. Ich im Bergtrikot - das ist ja peinlich. Das sollte lieber keiner sehen», kokettierte der eigentliche Flachland-Spezialist, der in diesem Jahr bei Paris-Roubaix lange um den Sieg mitfuhr, im Garten des Hotels «Beau Regard» in Morzine im Vorausblick auf L'Alpe d'Huez. Die Plastik-Tasche mit den zwei Exemplaren des Bergtrikots packte der deutsche Meister von 2000 wie ein Kind zu Weihnachten ganz vorsichtig unter dem Jubel der Team-Kollegen aus. Erik Zabel, der mit ähnlichen Tour-Geschenken als sechsfacher Gewinner des Grünen Trikots Erfahrung hatte, saß bei der «Bescherung» direkt neben seinem Freund Aldag.
Im Ziel der mit 230,5 Km längsten Tour-Etappe hatte der 34-Jährige nach einer fast 230 km langen Flucht - 800 Meter nach dem Start hatte er zusammen mit dem Weltranglisten- und Weltcup-Spitzenreiter Paolo Bettini (Italien) attackiert - «keine Kraft mehr, um die Arme hochzureißen». Außerdem wäre sich Aldag nicht sicher gewesen, ob eine solche Geste 2:29 Minuten hinter Etappensieger Virenque überhaupt zulässig gewesen wäre. «Der Zweite ist erster Verlierer», nannte Aldag, der im Vorjahr die Tour 14 Tage mit angebrochener Rippe zu Ende fuhr, eine unbarmherzige Regel des Profi-Radsports.
Aber als Verlierer fühlte sich Aldag zum Glück nicht. Immerhin hatte der als Helfer Beschäftigte die Kohlen für die Telekom-Truppe, für die der hoch bezahlte Neueinkauf Santiago Botero mit 10:21 Minuten Rückstand schwer enttäuschte, aus dem Feuer geholt. Lohn dafür waren Aufmerksamkeit und Interview-Wünsche, wie sie eigentlich sonst nur den Stars zuteil werden. «Ich erinnere mich nicht mehr daran, wann es war, als ich zwei Mal bei Tour-Etappen Dritter war», meinte Aldag, der 1994 in Tressilac hauchdünn am Gelben Trikot vorbeigeschrammt war.
Die Gefahr, dass er seinen großen Tag von Morzine vergisst («Natürlich hätte ich die Etappe gerne gewonnen»), ist relativ gering. Die Berg-Trikots kann Aldag, dessen 13-jährige Karriere mit Siegen nicht gerade gepflastert ist, nämlich behalten. Auch wenn sein Glück - wovon auszugehen ist - in L'Alpe d'Huez schon wieder enden wird, freute sich sein alter Teamleiter Rudy Pevenage, jetzt Chef bei der Bianchi-Konkurrenz und im vergangenen Dezember mit bösen Worten bei Telekom verabschiedet, mit ihm: «Ich hätte Rolf den Sieg gegönnt und freue mich, dass er dieses Trikot hat.»
Vor drei Tagen hatte sich der neue «Berg-König» Aldag scherzhaft mit folgenden Worten auf die Berge eingestimmt: «In den Alpen geht es für mich nur darum, von A nach B zu kommen, wie es der Streckenplan vorsieht - und dabei in der Karenzzeit zu bleiben.»