Frankfurt/Main (rad-press) Es war heiß 1992 in Barcelona.
Brütend heiß. Der Asphalt auf den Straßen vor der Stadt glühte. Und Erik Zabel
jubelte. Vierter war der heutige Telekom-Star bei den Olympischen Spielen geworden. Knapp
an der Medaille vorbei, aber den Sprint der Verfolger gewonnen. An den Tag in Spanien
denkt der 30-Jährige oft zurück. Für den Weltcup-Führenden ist Olympia etwas
Besonderes, eine olympische Medaille - die bekäme einen Ehrenplatz im Trophäenschrank in
seinem Domizil.
"Erik Zabel wird sicher eine besondere Rolle spielen", gibt Olaf
Ludwig zu. Der Vize-Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer zählt den dreimaligen
Gewinner von Mailand-San Remo eindeutig mit zu den Favoriten für das Straßenrennen am
27. September. "Er ist klar in die Richtung Klassiker-Jäger gegangen." Darauf
beruht die Hoffnung. Obwohl die Strecke in Sydney als nicht allzu schwierig gilt, glaubt
niemand im deutschen Team daran, dass es am Ende zu einem Massenspurt um olympisches Gold
kommen wird. "Es gehören im Gegensatz zu einer Weltmeisterschaft, bei der zwölf
Mann pro Nation starten dürfen, nur fünf Fahrer zur Mannschaft. Da ist es nicht
möglich, ein Feld für einen Sprint zusammen zu halten", erklärt Ludwig. Und wenn,
dann ist Zabel auf jeden Fall auch ein mehr als beachtenswerter Kandidat. Obwohl der
fünfmalige Gewinner des Grünen Trikots bei der Tour de France im Vergleich zu früheren
Jahren zweifellos an Endgeschwindigkeit verloren hat.
"Unsere Mannschaft ist nicht einzig und allein auf Erik Zabel
ausgerichtet", erklärt Burckhard Bremer, Sportwart des BDR, "das Team ist sehr
wohl abgestimmt auf Sieg und Platzierungsfahrer." Wie gut beispielsweise Jan Ullrich
in Form ist, hat er mit seinem zweiten Rang bei der Meisterschaft von Zürich bewiesen.
Dabei war offensichtlich, dass der Tour-Zweite der stärkste Fahrer im Feld war. Der
Amateur-Weltmeister von 1993 kann jederzeit in die Medaillenränge fahren, auch wenn sein
Hauptaugenmerk dem Zeitfahren am 30. September gelten wird.
Dort ist der amtierende Weltmeister favorisiert, alles deutet auf einen
Zweikampf mit dem Amerikaner Lance Armstrong, dem Tour-Sieger, der bei den Zeitfahren der
Frankreich-Rundfahrt dominierte, hin. "Ich warne davor, nur auf die beiden zu
achten", sagt aber Olaf Ludwig. Auch Fahrer wie der Schweizer Alex Zülle, der
Engländer Chris Boardman, der Schotte David Millar oder Sergej Gontschar aus der Ukraine
seien zu beachten. "Es gibt auf jeden Fall fünf bis sechs Fahrer, die sich Chancen
ausrechnen können. Eine Medaille ist aber auf jeden Fall das Ziel von Jan Ullrich."
Ein Handicap für Ullrich könnten die Temperaturen sein. Das australische Frühjahr
bringt nicht die hohen Temperaturen, die er liebt. In Oslo war es 1993 ausgesprochen
heiß, ein Jahr später, bei seinem dritten Platz im Zeitfahren auf Sizilien, ebenfalls.
Die Witterungsbedingungen könnten Armstrong zum Vorteil gereichen.
Aber auch Ullrichs Telekom-Mannschaftskollege Andreas Klöden gilt als guter
Zeitfahrer, dem einiges zugetraut werden kann. Im Einzelrennen wird der Newcomer aus
Berlin jedoch weitaus stärker Helfer-Dienste zu leisten haben. Ähnlich wie Rolf Aldag
(Ahlen) oder Jens Voigt (Berlin). Sie alle sind jedoch stark genug, in Ausreißergruppen
mitzufahren. Die Respekt erfordernden Auftritte von Jens Voigt bei der Tour de France sind
noch bestens in Erinnerung. "Bei Olympia kommen sicher 20 Mann für den Sieg in
Frage, mehr als bei einer WM. Das Rennen findet nur alle vier Jahre statt, es ist etwas
ganz besonderes. Und wegen der geringen Mannschaftsstärke bedarf es auch sehr viel
Glück, um am Ende ganz vorne zu sein", erklärt Ludwig.
Ullrich, Klöden und Aldag bestreiten als
Olympia-Vorbereitung die Spanien-Rundfahrt und reisen danach direkt nach Brisbane,
eineinhalb Flugstunden von Sydney entfernt, wo die Mannschaft ihr Trainingslager beziehen
wird. Erik Zabel fährt die Polen- sowie die Rheinland-Pfalz-Rundfahrt und reist mit
Ex-Profi Mario Kummer sowie Telekom-Arzt Lothar Heinrich, die beide zum Betreuerstab für
Olympia gehören, nach Brisbane. Jens Voigt wird am 16. und 17. September noch kleinere
Rennen in Frankreich bestreiten und dann nach Australien aufbrechen. Lediglich am 25.
September ist es möglich, auf der Olympia-Strecke zu trainieren, deshalb zieht es das
Team vor, statt in der Enge des Olympischen Dorfes zu wohnen, sich etwas weiter nördlich
am Rand der Goldküste, wo auch einige deutsche Leichtathleten ihre letzten Vorbereitungen
treffen werden, ein Trainingslager zu beziehen.
Auf Einladung der Deutschen Telekom, aber ohne sportliche Akkreditierung, werden
auch die Chefs des Team Telekom, Walter Godefroot und Rudy Pevenage, in Sydney vor Ort
sein. An Unterstützung wird es also nicht fehlen, das Unternehmen Olympia zum Erfolg zu
führen. "Wir möchten natürlich die Erfolge der Weltmeisterschaften 1999
wiederholen", sagt Burckhard Bremer und denkt an die WM-Goldmedaille von Jan Ullrich
im Zeitfahren. Verbessern will er vor allem aber das Abschneiden der Frauen. In Italien
enttäuschten Hanka Kupfernagel und ihre Teamkolleginnen vor einem Jahr. "Unter die
ersten sechs werden wir mit Sicherheit fahren, auch die Medaillenränge sind
machbar", sagt Bremer.
Bundestrainer Jochen Dornbusch teilt seinen Optimismus. Er reist mit Petra
Roßner und Ina Yoko-Teutenberg schon am 11. September nach Australien, Hanka Kupfernagel
wird mit ihrem Ehemann und Betreuer Torsten Kupfernagel-Wittig am 17. September erwartet.
Nach einigen Spannungen in der Vergangenheit zwischen ihm und dem BDR gestaltet sich die
Zusammenarbeit in diesem Jahr problemlos. "Ich erwarte eine Medaille", sagt
Trainer Dornbusch, "und im Straßenrennen ist die Chance sicher größer als im
Zeitfahren." Im Kampf gegen die Uhr erwartet er Weltmeisterin Leontien van Moorsel
aus Holland oder die Olympiasiegerin von 1996, Sulfia Sabirowa aus Russland, weit vorne.
Medaillenchancen besitzen aber auch Judith Arndt und Hanka Kupfernagel. "Eine
Überraschung ist drin", sagt Dornbusch. Ähnlich wie bei den Männern stellt auch
bei den Frauen die Beschränkung der Teilnehmerinnen ein Problem dar. Nur drei
Starterinnen pro Nation sind im Straßenrennen zugelassen. "Das wirft eine Renntaktik
natürlich über den Haufen, es fahren praktisch keine Indianer sondern nur
Häuptlinge", erläutert Dornbusch, "aber bei uns wird jede für jede
fahren."
Gerd G r a u s