von Jochen W i l l n e r
Berlin (pps) Standen die Frauen im internationalen Bahnradsport bisher
immer etwas im Schatten der Männer, so sind diesmal bei den Weltmeisterschaften in Berlin
bei den Amazonen spannende Entscheidungen zu erwarten. Vier der insgesamt zwölf
WM-Disziplinen bleiben den Frauen vorbehalten. Mit der französischen Ausnahme-Athletin
Félicia Ballanger steht gegenwärtig eine Radsportlerin an der Spitze, die mit ihren
großartigen Leistungen dazu beiträgt, dass auch der Bahnradsport der Frauen im Interesse
der Öffentlichkeit immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Titel Nummer 9 und 10 für Félicia Ballanger im
Sprint und Zeitfahren?
Auch bei den Weltmeisterschaften in Berlin wird Félicia Ballanger im Mittelpunkt
stehen, denn die Französin will in der Spree-Metropole ihre WM-Titel Nummer neun und zehn
folgen lassen. Sie hat bereits je vier Titel im Sprint und im Zeitfahren bei den letzten
vier Weltmeisterschaften gewonnen, ist die erfolgreichste Bahnfahrerin überhaupt und
könnte im Sprint die Sowjetrussin Gunda Ermolajewa einholen, die von 1958 bis 1961 fünf
Mal in Folge Weltmeisterin im Sprint war.
Seit 1995 ist Ballanger in dieser Disziplin nicht zu schlagen. Ihrem
ersten WM-Titel 1995 in Bogota/Kolumbien folgten 1996 der Olympiasieg von Atlanta sowie
drei weitere WM-Titel in Manchester (1996), Perth (1997) und Bordeaux (1998). Damit
schaffte der Schützling des zweimaligen Sprint-Olympiasiegers Daniel Morelon (1968/1972)
etwas Einmaliges. Sie sicherte sich in Bordeaux nicht nur zum vierten Mal in Folge den
Titel im Radsprint, auch im 500-Meter-Zeitfahren stand sie seit der WM-Premiere dieser
Disziplin 1995 bei der Medaillenvergabe stets auf der obersten Stufe des Siegerpodestes.
Die Krönung folgte im vergangenen Jahr, als sie vor eigenem Publikum
in Bordeaux nicht nur die Goldmedaillen im Sprint und Zeitfahren holte, sondern
zusätzlich in 34,010 Sekunden noch einen Weltrekord über die 500 Meter aufstellte. Und
die Chancen, diese Bestmarke auf der schnellen Bahn im Berliner Velodrom erneut zu
unterbieten, stehen günstig...
Dass Félicia Ballanger die Fortsetzung ihrer außergewöhnlichen
Erfolgsserie gelingen könnte, steht außer Frage. Denn noch ist keine Konkurrentin in
Sicht, die ihr wirklich gefährlich werden kann. Diese bittere Erfahrung machte in den
letzten beiden Jahren Michelle Ferris (Australien), die der Französin jeweils im
Sprintfinale klar unterlag.
Auch aus deutscher Sicht liegt der letzte Erfolg im Radsprint schon
einige Jahre zurück. Den einzigen deutschen WM-Titel holte sich 1986 in Colorado Springs
Christa Rothenburger im Trikot der ehemaligen DDR. Erfolgreichste deutsche Starterin in
den neunziger Jahren war Annett Neumann, die bei den Weltmeisterschaften 1991 und 1996
sowie bei den Olympischen Spielen 1992 jeweils die Silbermedaille gewann. Ihren
Nachfolgerinnen im BDR-Trikot gelang es bisher noch nicht, in die Fußstapfen der
Cottbuserin zu treten.
Einerverfolgung: Arndt, Tyler-Sharman und van
Moorsel
Rebecca Twigg lautet einer der großen Namen in der 3000-Meter-Einerverfolgung. Die
Amerikanerin gehört mit sechs WM-Titeln zwischen 1982 und 1995 zu den erfolgreichsten
Athletinnen. Auch Tamara Garkuschina (UdSSR) gewann nach ihrer ersten Goldmedaille 1967 in
den Jahren 1970 bis 1974 fünf WM-Titel in Folge.
Zu den bekanntesten Titelträgerinnen auf der Bahn zählt auch Jeannie
Longo (Frankreich). WM-Gold in der Verfolgung gewann die exzellente Straßenfahrerin in
den Jahren 1986, 1988 und 1989. Noch in diesem Jahr siegte die inzwischen 40-Jährige in
der Verfolgung bei den französischen Meisterschaften. Bei der WM in Berlin wird die
extravagante Sportlerin allerdings nicht an den Start gehen. Sie konzentrierte sich voll
auf die Straßen-WM in Italien, wo sie allerdings keine Medaillen gewinnen konnte.
Zwei Mal standen bisher auch deutsche Verfolgerinnen bei Titelkämpfen
auf dem obersten Treppchen. Bei der WM in Stuttgart legte Petra Roßner (Leipzig) mit
ihrem ersten Titelgewinn auch den Grundstein für den Gewinn der olympischen Goldmedaille
ein Jahr später in Barcelona.
Titel Nummer zwei in der Einerverfolgung für den Bund Deutscher
Radfahrer folgte sechs Jahre später. Judith Arndt (Frankfurt/Oder) schaffte im
australischen Perth 1997 die Sensation. Nach Bronze bei Olympia in Atlanta 1996 sicherte
sich die Sportsoldatin völlig überraschend WM-Gold. Vor Jahresfrist verpasste sie nur
knapp den Einzug ins Finale und musste sich in Bordeaux mit Bronze zufrieden geben. In
Berlin will die "Allrounderin", die zuletzt mit dem sechsten Platz im
Einzelzeitfahren bei der Straßen-WM überzeugte, erneut eine Medaille - und dies mit
Blick auf ihr großes Ziel, die Olympischen Sommerspiele 2000.
Zu den Top-Favoritinnen in der Verfolgung gehören neben Judith Arndt
die australische Titelverteidigerin Lucy Tyler-Sharman und Leontien Zijlaard-van Moorsel.
Die Niederländerin reist mit einer Goldmedaille im Einzelzeitfahren im Gepäck direkt von
den Titelkämpfen auf der Straße in Italien nach Berlin an.
Punktefahren: Ausgang offen
Völlig offen ist der Ausgang im Punktefahren. Die Disziplin, die seit
1988 zum WM-Programm gehört, kennt auch bei der WM in Berlin eine ganze Reihe von
Favoritinnen. Neben der amtierenden Titelträgerin, Teodora Ruano (Spanien), will Guerrero
Belem (Mexiko) nach Bronze und Silber in den letzten beiden Jahren endlich den Titel.
Erfolgreichste Athletin in dieser Disziplin war bisher die Niederländerin Ingrid Haringa
mit insgesamt drei WM-Siegen. 1991 gelang ihr sogar doppeltes WM-Gold mit dem Titel in der
Einerverfolgung. Zweimal erfolgreich war Swetlana Samochwalowa (Russland), die 1995 und
1996 nicht zu schlagen war. Den deutschen Starterinnen blieb in dieser Disziplin bisher
Edelmetall versagt. Doch dies könnte sich bald ändern. Mit Judith Arndt, Anke Wichmann
und auch Petra Roßner stehen Kandidatinnen bereit, denen bei den Titelkämpfen im eigenen
Land durchaus Medaillenchancen eingeräumt werden können.