Münster (rad-net) - Tony Martin hat sich mit seinem dritten Weltmeistertitel
im Einzelzeitfahren in den Geschichtsbüchern des Radsports verewigt. Im großen,
zweiteiligen «rad-net»-Interview spricht der 28-Jährige über seinen historischen
Triumph, die Manipulationsvorwürfe aus der Schweiz, seine persönliche
Saisonbilanz und das Ziel Olympia-Gold.
Tony Martin, Sie sind zum dritten Mal in Folge Zeitfahr-Weltmeister
geworden - haben Sie diesen historischen Erfolg schon verinnerlicht?
Tony Martin: Das kam jetzt so langsam, als ich zu Hause war, alleine auf
meinem Rad gesessen habe und ein bisschen Zeit hatte, den Gedanken freien Lauf
zu lassen. Aber es ist wie nach jedem großen Erfolg: Es dauert ein paar Tage,
bis man das wirklich realisiert.
Hätten Sie sich das je erträumt, als Sie mit 14 Jahren angefangen haben
Rennrad zu fahren?
Martin: Es war immer ein Traum, Weltmeister zu werden. Eigentlich dachte ich
schon 2011, als ich das erste Mal Weltmeister geworden bin, dass meine Träume
wahr geworden sind und es nicht besser werden könnte. Aber jetzt dreimal
hintereinander, das ist schon eine echte Ansage. Ich denke, damit habe ich mich
auch ein Stück weit in die Geschichtsbücher geschrieben - das macht mich schon
stolz.
Was motiviert Sie immer wieder aufs Neue, solche Höchstleistungen zu
bringen?
Martin: Der Anspruch an mich selber. Ich kann nicht sagen, dass ich das für
andere Leute mache. Sicherlich ist es sehr, sehr motivierend, wenn man wie ich
ein Team und ein Umfeld hat, das einen zu hundert Prozent unterstützt. Aber es
ist dieser eigene Anspruch, alles geben zu wollen und - egal wie es am Ende
ausgeht - sagen zu können: Ich habe alles gegeben und alles gemacht. Das ist mein
Antrieb.
Im WM-Einzelzeitfahren sind Sie auf dem 57,9 Kilometer langen Kurs von
Montecantini Terme nach Florenz einen Schnitt von 52,9 km/h gefahren. Im
Mannschaftszeitfahren wären Sie damit auf dem sechsten Platz gelandet.
Martin: Das habe ich auch gehört. Da kann ich demnächst mit einem eigenen
Team an den Start gehen (lacht). Das ist natürlich schon eine starke Zeit. Mit
Kopenhagen 2011 war das eines meiner besten Zeitfahren überhaupt, in dem ich
eine Stunde lang voll durchpowern konnte. Vom Mentalen war es noch einmal die
härtere Probe, weil ich diesmal als Topfavorit an den Start gegangen bin. Vor
zwei Jahren hatte ich nicht so einen ganz, ganz großen Druck. Insofern bin ich
jetzt besonders stolz, dass ich diesem Druck standgehalten habe und ihn positiv
genutzt habe, um Spitzenleistungen bringen zu können.
Von der Schweizer Boulevard-Zeitung «Blick» gab es Manipulationsvorwürfe,
Sie hätten mithilfe kleiner Spoiler unter dem Trikot die Aerodynamik verbessert.
Können Sie darüber schmunzeln?
Martin: Ich sage immer: Es gibt keine schlechte Presse. So war ich halt noch
ein bisschen länger präsent. Aber im Ernst: Natürlich kenne ich die Medienwelt
so langsam, wo jeder das Besondere berichten und die Story des Tages haben will.
Wenn man dieses eine spezielle Bild sieht, hat man vielleicht eine Grundlage für
Gerüchte. Aber ein seriöser Reporter, der wirklich an der Wahrheit interessiert
ist, der schaut sich auch andere Fotos aus einem anderen Winkel mit einer
anderen Sonneneinstrahlung an und sieht dann, dass da gar nichts ist. Die
Vorwürfe entbehren jeglicher Grundlage, insofern kann ich da wirklich drüber
schmunzeln.
Wie fällt kurz vor dem Saisonende Ihr persönliche Jahresbilanz aus?
Martin: Von den Erfolgen passt es auf jeden Fall, von der Anzahl der Siege,
auch die Qualität, gerade der Zeitfahrsiege. Zwei kleinere Rundfahrten gewonnen,
davon eine Heimrundfahrt, die für unser Team sehr wichtig ist. Ich denke, ich
kann auf jeden Fall zufrieden sein. Persönlich wurmt es mich ein bisschen, dass
ich nicht bei einer größeren Rundfahrt mit vorne fahren konnte. Ich spreche
jetzt nicht von der Tour oder Vuelta, sondern zum Beispiel von der Tirreno oder
Romandie. Da bin ich schon ganz vorne mitgefahren und das sollte für mich das
Ziel sein, da wieder hinzukommen.
Ist auch Rio jetzt schon ein Ziel oder wie weit weg sind die Olympischen
Spiele 2016 noch?
Martin: Rio ist auf jeden Fall schon ein Ziel, auch gedanklich. Die
Olympischen Spiele letztes Jahr in London, meine ersten Spiele, haben mich so
sehr überrascht, dass ich gesagt habe: Hier will ich irgendwann mal ganz vorne
sein und Gold holen.
Inwiefern haben Sie die Olympischen Spiele überrascht?
Martin: Das ist das einzige Ereignis, wo so viele Sportarten
aufeinandertreffen und überall Sport in der Luft liegt. Das kann man eigentlich
gar nicht beschreiben. Das war ein ganz, ganz großartiges Erlebnis. Ich habe mal
durchgezählt, wie viele Olympische Spiele ich noch mitmachen kann. (lacht) Zwei
oder drei wären schon schön. Das ist neben der Tour früher, heute nicht mehr,
das einzige, wo der Gedanke war „Dabei sein ist eine geile Sache“. Das war jetzt
bei Olympia unabhängig vom Ergebnis: Einfach dabei zu sein.
Im zweiten Teil des großen «rad-net»-Interviews mit Tony Martin spricht
der Zeitfahrweltmeister über den Stellenwert des deutschen Radsports im
internationalen Vergleich, den kraftraubenden Anti-Doping-Kampf, die Rolle des
Fernsehens und seine angebliche Umschulung zum Rundfahrer. Ab morgen auf
rad-net.de …
zum Sportlerportrait von Tony Martin auf «rad-net»