Kreuzlingen (rad-net) - Nachts um drei Uhr war Dominik Nerz nach drei Wochen Vuelta wieder zurück zu Hause in Kreuzlingen. Im Gepäck hatte der 24-Jährige den 14. Platz der Gesamtwertung und zwei Top-Ten-Platzierungen - aus deutscher Sicht das beste Resultat bei einer großen Rundfahrt in jüngster Zeit.
Der BMC-Profi entstammt der hoffnungsvollen deutschen Radsport-Generation um Marcel Kittel und John Degenkolb, mit denen er auch regelmäßig für die U23-Nationalmannschaft im Einsatz war. Nerz wechselte Anfang dieser Saison von Liquigas-Cannondale zum US-Rennstall, wo er für zwei Jahre unterschrieb.
Der gebürtige Wangener und Wahl-Schweizer spricht im «rad-net»-Interview über die Strapazen der vergangenen drei Wochen, die Gründe für seine starke Form und seine Ambitionen für die Straßen-Weltmeisterschaft vom 22. bis 29. September in Florenz.
Herr Nerz, auf der vorletzten Etappe hoch zum Alto de L'Angliru schien es,
als würden Sie auch nach drei Wochen Vuelta nicht müde. Gilt das nach Abschluss
der Spanien-Rundfahrt immer noch?
Nerz: Ich bin müde - definitiv! Jetzt kann ich’s auch zugeben. Über die drei
Wochen habe ich versucht, mir selber gar nicht einzugestehen, dass ich müde sein
könnte.
Wie sind Sie denn insgesamt durch die letzten drei Wochen gekommen?
Nerz: Mit vielen Ups and Downs, wobei ich schon sagen muss, dass es von der
Tendenz her eher nach oben ging. Aber es gab sicherlich Momente, wo ich mich
gefragt habe: «Warum mache ich eigentlich Radsport?» Aber das ist normal in
einer Drei-Wochen-Rundfahrt.
Wann war das? Auf der 14. Etappe von Baga nach Andorra, wo die
Wetterbedingungen mit Nebel, Regen und Kälte extrem waren?
Nerz: Zum Beispiel, ja. Da war das Limit erreicht, von dem was man so
körperlich aushalten kann. Mit dem Wissen, dass am nächsten Tag das Wetter
ähnlich sein wird, war das ein Punkt, an dem ich gedacht habe: «Oah, warum?»
Wenn Sie jetzt den 14. Gesamtrang sehen: Haben sich die Mühen gelohnt?
Nerz: Auf jeden Fall. Ich bin super zufrieden. Wenn mir jemand vor der Vuelta
gesagt hätte, dass ich unter die Top 15 der Gesamtwertung fahren würde, hätte
ich ihm vielleicht ein müdes Lächeln geschenkt. Ich wusste, dass ich mich sehr
gut vorbereitet habe, aber dass ich wirklich die Kraft habe über drei Wochen so
konstant zu fahren, hat mich fast selber ein bisschen überrascht. Leider warte
ich noch auf meinen lange ersehnten Sieg, aber die Gesamtwertung ist auch
einiges wert.
Auf der 16. Etappe haben Sie als Vierter Ihren ersten WorldTour-Sieg
verpasst. Ist der Ärger darüber inzwischen verflogen?
Nerz: Mittlerweile ist es okay, aber nach dem Rennen hätte ich mir am
liebsten selber ein Bein abgehackt. Ich war so wütend über mich selbst. Im
Rennen wusste ich: «Du kannst in der Gesamtwertung Boden gutmachen, aber Du
kannst auch um den Etappensieg mitfahren.» Dann habe ich mich für die
schlechteste Lösung entschieden und den Mittelweg genommen - letztendlich kam
dann gar nichts dabei heraus. Das nagt an einem. So etwas wird mir nie wieder
passieren!
Insgesamt betrachtet läuft es zurzeit aber rund bei Ihnen. Woran liegt
das?
Nerz: Wie gesagt: Ich habe mich schon das ganze Jahr extremst auf meinen
Sport konzentriert und versucht, an vielen Dingen zu arbeiten und sie zu
perfektionieren. Zum Beispiel was das Zeitfahren anbelangt, aber auch die
Ernährung und Trainingssteuerung - das Gesamtpaket habe ich mithilfe meiner
Trainer und Betreuer nochmal optimiert. Das war jetzt das erste Rennen, wo sich
das richtig ausgezahlt hat, auch wenn es in Polen schon ganz gut lief. Damit
habe ich mir selber bewiesen, dass sich die ganzen Mühen und der Verzicht auf
viele Dinge gelohnt haben.
War das der stärkste Dominik Nerz, den es je gegeben hat?
Nerz: Ich hoffe natürlich nicht. (lacht) Ich habe jetzt gezeigt, dass ich
Potenzial habe und will versuchen, mich weiterzuentwickeln. Mit 24 gehöre ich
zwar nicht mehr zu den Allerjüngsten, aber doch zu den eher Jüngeren. Mit BMC
habe ich eine Mannschaft gefunden, die mich super unterstützt. Dadurch, dass ich
jetzt meine Fähigkeit gezeigt habe, über drei Wochen gut zu fahren, wird sich
eventuell auch im nächsten Jahr nochmal einiges ändern. Vielleicht muss ich bei
einer Rundfahrt nicht erst für jemand anderen arbeiten und dann erst im Verlauf
einer Rundfahrt die Kapitänsrolle übernehmen. Vielleicht geht es dann nochmal
ein paar Plätze weiter nach vorne.
Aus deutscher Sicht war das eine der besten Gesamtplatzierungen bei einer
großen Rundfahrt in jüngster Zeit. Macht Sie das ein bisschen stolz?
Nerz: Sicherlich. Es ist für mich immer ein bisschen schwierig: Ich sehe
meine Leistung, den 14. Platz, das ist supergut. Aber ich habe noch eine Menge
zu lernen, wenn ich wirklich bei den Großen mitspielen will. Ich würde mich
niemals mit einem Andreas Klöden oder sonst irgendjemandem vergleichen - das
sind für mich die richtig großen Rundfahrer. Aber trotzdem bin ich auf meine
Leistung stolz und kann sagen: «Das ist für den Anfang richtig gut.»
Wo sehen Sie den deutschen Radsport anno 2013?
Nerz: Ich habe das Gefühl, dass es langsam wieder aufwärts geht. Der große
Boom ist es noch nicht, aber man merkt, wie langsam das Interesse und das
Vertrauen der Zuschauer zurückkommt. Das macht mich als Radsportler glücklich,
weil wir die Zuschauer - wie bei jeder anderen Sportart auch - natürlich
brauchen, sonst würde es den Radsport nicht geben. In anderen Ländern feiern die
Leute den Radsport ja auch.
Wie war das jetzt bei der Vuelta?
Nerz: Was man vorgestern am L'Angliru gesehen hat, das war Wahnsinn. Ich bin
ja im letzten Jahr auch die Tour gefahren, da waren über die gesamte Strecke
auch auf den flachen Zwischenstücken teilweise mehr Leute, aber was da
vorgestern los war, steht der Tour in gar nichts nach. Ich musste nach dem Ziel
den Berg mit dem Rad wieder herunterfahren: Nach unten habe ich länger gebraucht
als nach oben, weil ich durch die ganzen Menschen gar nicht durchgekommen bin,
teilweise musste ich laufen. Das war insgesamt sehr beeindruckend und macht
einfach Freude.
Geht der Blick auch schon auf die Straßen-Weltmeisterschaften in Florenz
Ende September?
Nerz: Klar, da würde ich sehr gerne fahren. Wenn ich die Form bis zur
Weltmeisterschaft halten kann, wird das eine interessante Sache für mich. Der
Kurs ist superschwer und wir haben gute Eintagesfahrer wie Fabian Wegmann, Paul
Martens oder John Degenkolb.
Was ist für das deutsche Team bei der WM möglich?
Nerz: Das ist sehr schwer zu sagen. Ich habe den Kurs noch nie live gesehen,
aber über unsere Sportlichen Leiter, die dort in der Nähe wohnen, viel gehört.
Vom Streckenplan her ist dieser Kurs sehr selektiv, man könnte ihn fast als
Höllenkurs bezeichnen. Das ist schon Wahnsinn, was wir da hoch und runter müssen
- über die Distanz wird das nicht einfach. Aus deutscher Sicht haben wir auf
jeden Fall Leute, die vorne mitfahren können, aber wir müssen mit einer guten
Taktik antreten. Wenn wir irgendwo zu viel Kraft rausschleudern, werden wir das
am Ende bitter bezahlen. Wir sind leider nur mit sechs Mann am Start und das
werden wir sicherlich merken. Für uns ist es wichtig, dass wir ein schlaues
Radrennen fahren. Wir müssen nicht die Stärksten sein, aber wir müssen die
Schlauesten sein.
Wie sieht Ihr Programm zur Regeneration in den nächsten Tagen aus?
Nerz: Ein bisschen werde ich mich dann doch auf dem Rad bewegen müssen. Heute
werde ich das aber mal sein lassen und nicht aufs Rad steigen. Ansonsten werde
ich mich gut ernähren, um wieder zu Kräften zu kommen, ein bisschen schlafen und
bei Familie und Freunden Moral tanken. Ich denke, dann bin ich wieder
hergestellt.
Was steht dann als nächstes auf dem Rennplan?
Nerz: Am Wochenende werde ich ein Zwei-Tages-Rennen in Belgien fahren - und
dann kann die WM kommen.
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