Tokio (rad-net) - Am Freitag werden die Olympischen Spiele in Tokio eröffnet. Im Interview äußert sich Patrick Moster, Sportdirektor des Bund Deutscher Radfahrer, über Chancen und Risiken dieser besonderen Spiele, und was er sich für die Sportlerinnen und Sportler des BDR erhofft.
Am ersten Wettkampf-Tag wartet gleich eine wichtige Entscheidung: Das Straßenrennen der Männer. Maximilian Schachmann hat sich speziell darauf vorbereitet und sogar auf die Tour-Teilnahme verzichtet. Was trauen Sie ihm zu?
Patrick Moster: Max wird mit einer ausgezeichneten Form in Tokio am Start stehen. Er hat die Olympischen Spiele in den Fokus seiner Vorbereitungen gerückt, dementsprechend wird die Mannschaft auch eingestellt werden. Mit nur vier Sportlern ist so ein Wettkampf schwer auszurechnen, schwer zu kontrollieren. Man muss taktisch ganz anders agieren, als beispielsweise in einer Tour-Etappe, wo acht Fahrer zum Team gehören. Die Distanz von über 230 Kilometern ist auch nicht zu unterschätzen. Unser Team ist so aufgestellt, dass wir gute Chancen auf ein erfolgreiches Abschneiden haben. Außerdem hat Max Schachmann noch eine weitere Option, das Zeitfahren drei Tage nach dem Straßenrennen.
Auch im Frauenrennen hat der BDR gute Chancen. Wie sehen Sie das? Oder werden die Niederländerinnen wieder alles dominieren?
Moster: Auch dabei wird viel vom jeweiligen Rennverlauf abhängen. Auch hier gilt: Mit nur vier Sportlerinnen ist so ein Wettkampf schwer auszurechnen, deshalb werden die Niederländerinnen nicht so dominant auftreten wie bei einer Weltmeisterschaft. Der individuellen Leistungsstärke kommt eine viel größere Gewichtung zu als bei anderen Rennen. Das haben wir auch bei der Nominierung bedacht und erfahrene Sportlerinnen wie Trixi Worrack und junge unerschrockene Talente wie Hannah Ludwig aufgestellt. Geplant ist, dass Lisa Brennauer diejenige sein wird, die um eine Medaille kämpfen soll.
Im MTB hat der BDR in den letzten Jahren immer gute Platzierungen erkämpft. In diesem Jahr waren die Fahrerinnen und Fahrer international aber nicht so erfolgreich. Allerdings ist ein Aufwärtstrend spürbar. Ist mehr drin, als eine Top-Ten-Platzierung?
Moster: Ich hoffe, dass die Sportlerinnen und Sportler den Aufwärtstrend in Tokio fortsetzen können. Elisabeth Brandau konnte im Vorfeld der Spiele nicht ihre Leistungsstärke abrufen, ob sie es in Tokio schafft, wird man sehen. Auch im Mountainbike haben wir versucht, Erfahrung und Unbekümmertheit zu mischen. Ronja Eibl geht hoch motiviert in ihre ersten Spiele, genau wie Maximilian Brandl. Und Manuel Fumic, der in sehr guter Form ist, wird seine ganze Erfahrung einsetzen, bei seinen fünften Spielen erfolgreich abzuschneiden.
Im BMX-Freestyle war Lara Lessmann große Medaillenhoffnung. Jetzt hat sie sich vier Wochen vor der Abreise nach Tokio das Schlüsselbein gebrochen. Ist die Medaillenchance dahin?
Moster: Vor ihrer Verletzung war sie eine gesetzte Medaillenkandidatin. Jetzt sind die Erwartungen niedriger, und man muss abwarten, wie risikofreudig sie fährt. Aber eigentlich kann sie nur gewinnen.
Die größten Medaillenchancen hat der BDR wieder auf der Bahn. Vor vier Jahren in Rio hat Kristina Vogel für die einzige Medaille im Sprint gesorgt. Jetzt lassen die dreifache Weltmeisterin Emma Hinze und Lea Friedrich berechtigte Hoffnungen auf gleich mehrfaches Edelmetall zu, oder?
Moster: Die Leistungsdaten im Vorfeld der Olympischen Spiele und auch die wenigen Trainings-Wettkämpfe die stattfanden, waren vielversprechend. Ich denke, dass wir bei der Medaillenvergabe mitsprechen werden. Die Frauen tragen uns. Sie sind hoch motiviert, in guter Verfassung, das stimmt optimistisch.
Die männlichen Teamsprinter waren bei früheren Olympischen Spielen immer sehr erfolgreich. Seit Rio «hakt» es ein bisschen. Wie liefen die Vorbereitungen? Sind die Sprinter fit für eine Medaille?
Moster: Im Sprintbereich der Männer hat sich viel getan. Die gezeigten Leistungen in den Vorbereitungen waren vielversprechend, so dass das Erreichen des kleinen Finals möglich ist.
Für Maximilian Levy sind es die vierten Spiele. Trauen Sie ihm noch einmal eine Einzelmedaille zu?
Moster: Bei diesen besonderen Spielen spielt nicht nur die physische, sondern auch die psychische Verfassung eine wichtige Rolle, noch mehr als sonst. Daher gehe ich davon aus, dass gerade die älteren Athleten aus ihrer Erfahrung einen überproportionalen Vorteil ziehen können. So muss man beispielsweise in Tokio damit umgehen können, dass jeden Tag das vorzeitige Ende nahen kann aufgrund der Corona-Situation. Nur ein positiver Test, und alles ist vorbei.
Die Paradedisziplin im Ausdauerbereich ist der Vierer. Die letzte Medaille für gab es vor über 20 Jahren, 2000 in Sydney. Kann diese Durststrecke in Tokio beendet werden?
Moster: Zunächst einmal sind wir froh, dass sich beide Vierer für die Spiele qualifiziert haben. Vor allem die Entwicklung bei den Frauen, ihr Abschneiden bei der WM in Berlin, stimmt uns zuversichtlich. Und auch der Männer-Vierer hat sich weiterentwickelt. Und für beide gilt: Bist du bei den Spielen am Start, ist alles möglich.
Vor zwei Wochen wurde entschieden, dass es in Tokio keine Zuschauer geben wird. Auch keine Einheimischen. Außerdem droht täglich die Gefahr der vorzeitigen Abreise bei einem positiven Corona-Test. Kontakte mit anderen Nationen sind außerhalb des Wettkampfs nicht möglich. Kann man sich auf solche Spiele überhaupt freuen?
Moster: Grundsätzlich bin ich, wie alle unsere Sportlerinnen und Sportler der Meinung, besser eingeschränkte Spiele als gar keine. Mit tut es aber für die Athleten leid, dass Tokio so unter ganz anderen Vorzeichen stattfinden muss. Sie wissen zwar, dass zu Hause alle an den Bildschirmen mitfiebern, aber in wie weit sich die leeren Ränge auf die Motivation auswirken wird, das muss man abwarten. Auch das, was Olympische Spiele normalerweise ausmachen, bleibt diesmal aus: Es wird keinen Kontakt mit anderen Nationen geben, kein Austausch mit Sportlern anderer Disziplinen. Der Olympische Gedanke, der bleibt auf der Strecke. Trotzdem: Besser so als gar nicht.
Die Japaner sind größtenteils gegen die Spiele. Können Sie das nachvollziehen, während in England 60.000 zu einem EM-Finale pilgern?
Moster: Die Japaner haben eine andere Mentalität als die Briten, sie sind bedächtiger und vielleicht auch etwas vorsichtiger. Außerdem trafen in London nur zwei Nationen aufeinander. In Japan kommen Athletinnen und Athleten aus über 200 Nationen zusammen. Dass man das mit Skepsis betrachtet, kann ich nachvollziehen.
Welche Ziele wollen Sie in Tokio erreichen? Wie viele Medaillen sind möglich?
Ich bin überzeugt davon, dass wir unseren Beitrag zum positiven Gesamtabschneiden der deutschen Olympiamannschaft beitragen werden. Eine genaue Anzahl festzulegen, ist dieses Jahr besonders schwierig. Wir hatten im Vorfeld viel Pech. Im BMX Race ist uns aufgrund einer kurzfristigen Regeländerung der Startplatz verloren gegangen. Lara Lessmann hat sich das Schlüsselbein gebrochen, Gudrun Stock wurde krank und fiel aus, Marco Mathis konnte nicht für den Vierer nominiert werden, Emanuel Buchmann hat seine Olympia-Vorbereitung kurzfristig geändert, weil er nach dem frühen Aus im Giro doch in die Tour gestartet ist. Wie gesagt, eine Medaillen-Prognose ist immer schwierig, in diesem Jahr aber unmöglich, denn niemand weiß, ob es nicht kurzfristige Ausfälle wegen Covid-19 geben wird. Um in der Sprache des Radsports zu bleiben: Wir sind im Vorfeld dieser Spiele über sehr viel Kopfsteinpflaster gefahren und hoffen, dass die Zielgerade gut asphaltiert sein wird.