Bastia (dpa) - Selten hatten deutsche Radprofis so große Chancen auf das Gelbe Trikot bei der Tour de France wie an den ersten vier Tagen der am Samstag beginnenden 100. Jubiläums-Ausgabe.
«Greipel oder Kittel auf der ersten Etappe, Degenkolb auf der zweiten und dritten und Martin beim Team-Zeitfahren auf der vierten Etappe: Alle gelten als aussichtsreich und könnten bei einem Sieg Gelb holen», meint Ex-Sprinter Erik Zabel, der das Maillot Jaune in seiner aktiven Laufbahn zweimal trug. Die großen Unbekannten bei der Zabel-Hochrechnung sind allerdings der 23-fache Etappengewinner Mark Cavendish und Alleskönner Peter Sagan. Beide kommen wie Greipel mit dem nationalen Meistertrikot nach Frankreich.
Anders als üblich beginnt die 100. Frankreich-Rundfahrt auf Korsika nicht mit einem Prolog. Die erste Etappe von Porto Vecchio nach Bastia über 213 Kilometer ist den schnellen Leuten auf den Leib geschneidert. «Dieser Streckenverlauf zum Auftakt ist ein Geschenk der Veranstalter an die Sprinter - da sollte man zugreifen», hatte Marcel Kittel erklärt, der beim Berliner Tour-Testlauf am 9. Juni Greipel im direkten Duell geschlagen hatte. Aber die Revanche folgte auf dem Fuß: Greipel fährt mit breiter Brust nach dem Sieg bei den Deutschen Meisterschaften in Wangen zum Tourstart.
«Die zweite und dritte Etappe nach Ajaccio und Calvi ist von der Topographie schwieriger und vielleicht etwas für Typen wie John Degenkolb», sagt Zabel, der als Sportlicher Leiter im russischen Katusha-Team im Einsatz ist. Mit einem Sieg im Teamzeitfahren am vierten Tourtag über 25 Kilometer in Nizza könnte sich der Zeitfahr-Doppelweltmeister und frisch gekürte deutsche Titelträger Tony Martin den Traum vom ersten Gelb erfüllen. «Schließlich ist sein Omega-Quickstep-Team Weltmeister in dieser Disziplin», gibt Zabel zu bedenken. Allerdings müsste dazu die britische Sky-Mannschaft des am höchsten gehandelten Tour-Favoriten Christopher Froome bezwungen werden.
Die theoretischen Möglichkeiten zum Griff nach Gelb hat auch schon Martin durchgespielt, der in sieben Einzelzeitfahren 2013 nicht zu schlagen war. Er fuhr die Strecke des Teamzeitfahrens in Nizza mit dem Auto ab und befand: «Ein nicht übermäßig anspruchsvolles Profil. Wir wollen als amtierende Weltmeister unserem Titel alle Ehre machen». Der eigene Zeitabstand zur Spitze auf den ersten drei Etappen würde laut Martin entscheiden, «ob ich im Mannschaftszeitfahren Richtung Gelbes Trikot blicken kann».
Theorie und Praxis liegen - besonders im Radsport, besonders bei der Tour, oft meilenweit auseinander. Ein Platten beim Prolog hatte dem hochambitionierten Wahlschweizer beim Tour-Start 2012 einen Strich durch die Rechnung gemacht. Danach kam es mit einem Sturz und Handbruch noch schlimmer für Martin, der das Rennen aufgeben musste.
«Die erste Tour-Etappe ist immer supernervös. Da muss man so lange wie möglich cool bleiben», sagte Kittel, der die unmittelbaren Chancen auf Gelb zwar als «Extramotivation» empfindet, sich «damit aber keinen Druck» machen will. Mögliche Abstimmungsprobleme bei der gemeinsamen Jagd nach Etappensiegen mit seinem Teamkollegen Degenkolb, der zuletzt beim Giro eine Etappe in eindrucksvoller Manier gewann, erwartet Kittel nicht: «Wir sind unterschiedliche Sprinter-Typen. Wir regeln das untereinander freundschaftlich», sagte er der Nachrichtenagentur dpa.
Der 24-jährige Thüringer will sein fehlgeschlagenes Tour-Debüt aus dem Vorjahr aus seinem Gedächtnis streichen. Nach einer Magen- und Darminfektion sowie Knieproblemen hatte er die 99. Tour schon nach der fünften Etappe aufgeben müssen.