London (dpa) - In nur sieben Minuten waren alle 6000 Tickets ausverkauft, und für die «perfekte Stunde» rasiert Sir Bradley Wiggins womöglich den Bart ab. Wenn der Zeitfahr-Weltmeister im Olympic Velodrome von London den Stundenweltrekord in Angriff nimmt, ist England mal wieder im Radsportfieber.
«Jeder erinnert sich noch an 2012 und welch schön Tage der britische Sport im Velodrome erlebt hat. Auf dieser Bahn einen solch bedeutenden Rekord zu versuchen, fühlt sich historisch an», sagt «Wiggo» vor seinem Auftritt auf dem Holzoval.
Alles ist bereitet für die nächste große Show im Velodrome, in dem die einheimischen Bahnradasse 2012 zu sieben Goldmedaillen gerast waren. Es war der Höhepunkt der britischen Radsport-Festspiele, zumal Wiggins als amtierender Tour-de-France-Sieger auch noch den Olympiasieg im Straßen-Zeitfahren geholt hatte.
Nun also der Stundenweltrekord. Dass der Brite die vom Australier Alex Dowsett im vergangenen Monat aufgestellte Bestmarke von 52,937 Kilometern übertrifft, steht für Experten außer Frage. «Ich würde nicht dagegen wetten. Alles was sich Brad vorgenommen hat, hat er auch erreicht», sagt der sechsmalige Olympiasieger Chris Hoy.
Wiggins peilt eine ganz andere Marke an. Mehr als 55 Kilometer will er zurücklegen, womöglich sogar die 56,375 Kilometern von Chris Boardman aus dem Jahr 1996 übertreffen. Die UCI hatte damals die Rekorde annulliert und futuristische Rahmengeometrien und außergewöhnliche Sitzpositionen verboten. Erst im vergangenen Jahr hatte der Weltverband die Restriktionen gelockert, woraufhin Jens Voigt die neue Rekordhatz begann und kurz den Weltrekord hielt.
Wiggins hat sich für seinen Auftritt intensiv vorbereitet, auch mit deutscher Hilfe. Bahn-Erfolgstrainer Heiko Salzwedel hatte den 35-Jährigen unterstützt. Und die Trainingswerte lassen wohl auf einen formidablen Auftritt am Sonntag schließen. «Ich bin die Stunde schon im Training gefahren, und es fühlte sich nicht schlecht an», meinte Wiggins, der bis zuletzt auf der Bahn in Palma de Mallorca trainierte. Der eigenwillige frühere Toursieger gilt als Perfektionist. In den Medien wurde bereits spekuliert, dass Wiggins seinen Bart abrasiert, um aerodynamisch weitere Meter herauszuholen.
Und dass sich der Brite quälen kann, ist längst von seinen starken Auftritten in Frankreich bekannt. «Nach einer Stunde ist doch alles vorbei. Das ist kein Vergleich zur Tour de France», sagt Wiggins, der im April beim Klassiker Paris-Roubaix Abschied vom Straßen-Radsport genommen hatte. Wiggins wird noch bis 2016 seine Runden auf dem Holzoval drehen. Sein letztes großes Ziel sind die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro. Dort will er seine beeindruckende Medaillensammlung (viermal Gold, einmal Silber und zweimal Bronze) aufbessern.
Ein Duell mit dem deutschen Zeitfahrspezialisten Tony Martin, dem er im vergangenen Jahr den WM-Titel weggeschnappt hatte, wird es aber nicht mehr geben. Trotzdem wäre es schön, so Wiggins, wenn andere Stars wie Martin oder Fabian Cancellara den Stundenweltrekord auch angreifen würden. Gut möglich, dass sich nach einer «perfekten Stunde» von Wiggins aber so schnell keiner mehr an die Marke traut.