Leuwen (rad-net) - Zehn Jahre ist es her, dass Tony Martin seinen ersten WM-Titel im Einzelzeitfahren gewann. 2011 in Kopenhagen war er der Schnellste im Kampf gegen die Uhr. Es folgten die Siege in Valkenburg (2012), Florenz (2013) und Doha (2016). 2014 gewann er Silber. Fünf Jahre nach seinem letzten großen Triumph will es der inzwischen 36-Jährige noch einmal wissen und hat sich auf die Titelkämpfe am morgigen Sonntag in Flandern perfekt vorbereitet.
«Seit meinem vorzeitigen Ausstieg in der Tour habe ich im Schnitt vier Mal pro Woche auf dem Zeitfahr-Rad gesessen», erzählt der Wahl-Schweizer. Das 43,3 Kilometer lange WM-Zeitfahren ist endlich mal wieder nach seinem Geschmack: Tellerflach mit gerade einmal 78 Höhenmetern und eine lange Distanz. Da kann Martin seine ganze Kraft auf die Pedale bringen und dicke Gänge wuchten. Eine gewisse Spritzigkeit, das gibt er zu, sei ihm in den letzten Jahren verloren gegangen, weil er als Road Capitain bei Jumbo-Visma für Klassementfahrer wie Primoz Roglic kilometerlange Tempoverschärfungen an der Spitze des Pelotons verrichtet. «So etwas ist eben typenabhängig. Ich mache diese Arbeit von vorn, weil ich es kann», sagt Martin. Und reist heute hochmotiviert nach Flandern, zusammen mit seinem Sportlichen Leiter von Jumbo-Visma, Grischa Niermann.
«Ich werde die Strecke erst noch in Augenschein nehmen. Ich kenne sie bisher nur von Videos. Aber ich denke, sie liegt mir», so Martin und hofft noch einmal auf ein Top-Ergebnis. Denn: „Das ist zu 100 Prozent meine Strecke.» Und weiter: «Meine Mannschaft hat mir jegliche Unterstützung gegeben», ist Martin dankbar, dass Jumbo-Visma seine WM-Pläne fördert. Besonders freut er sich über einen neuen Lenker, der noch bessere Stabilität bietet.
Die Konkurrenz ist in den letzten Jahren nicht weniger geworden. Martin sieht Europameister Stefan Küng aus der Schweiz, Titelverteidiger Filippo Ganna aus Italien und vor allem seinen Jumbo-Visa-Teamkollegen Wout van Aert als Hauptkonkurrenten. Und er selbst hofft auf eine Medaille. «Meine Form stimmt, die Vorbereitungen waren gut. An einem guten Tag fahre ich um die Medaillen mit», hofft der zweifache Familienvater, der eine zweite Medaillenchance am darauffolgenden Mittwoch wahrnehmen will.
Dann startet Martin zusammen mit Nikias Arndt (DSM) und Maximilian Walscheid (Qhubeka-NextHash) im Staffel-Wettbewerb. Dort hat der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) vor zwei Jahren bei der WM-Premiere mit Martin Silber gewonnen. Und Max Walscheid stand erst letzte Woche bei den Europameisterschaften als Zweiter im Mixed-Wettbewerb auf dem Treppchen. Der Neuwieder geht ebenfalls hoch motiviert in die beiden Zeitfahren. Neben der Staffel startet er auch im Einzelzeitfahren, wo er zuletzt bei den Europameisterschaften einen großartigen fünften Platz belegte. «Ich habe erst im letzten Jahr bei der WM begonnen, den Fokus auf Zeitfahren zu richten. Darum war ich mit diesem fünften Platz echt super zufrieden», sagte Walscheid und mit Blick auf die WM am Sonntag ergänzte er: «Ich bin in Top-Form und super motiviert für Sonntag.»
Im Staffel-Wettbewerb, der offiziell «Team Relay» heißt, gehen zunächst die Männer auf den 22,2 km langen Rundkurs. Anschließend nehmen drei Frauen den Wettbewerb auf, fahren ebenfalls eine Runde. Der BDR schickt dasselbe Trio ins Rennen, das schon vor zwei Jahren in Harrogate erfolgreich zur Silbermedaille fuhr: Lisa Brennauer (Ceratizit-WNT), Lisa Klein (Canyon-Sram) und Mieke Kröger (Coop-Hitec Products). Diese Drei harmonieren perfekt. Zusammen mit Franziska Brauße, die bei der Straßen-WM nicht am Start ist, gewannen sie in Tokio die Goldmedaille in der Mannschaftsverfolgung. Brennauer holte sich letzte Woche bei der EM die Bronzemedaille im Einzelzeitfahren, wo Lisa Klein einen starken vierten Platz belegte. Und Mieke Kröger gehörte in Italien bei der EM zur erfolgreichen Mixed-Staffel, die sich die Silbermedaille eroberte.
Das flache Terrain kommt allen Drei entgegen. Im Einzelzeitfahren, das bei den Frauen über 30,3 Kilometer führt, werden sie Top-Ergebnisse abliefern. Mit Medaillenprognosen sind sie aber vorsichtig. «Die Bronzemedaille motiviert mich natürlich», sagt Brennauer. «Aber die Konkurrenz bei der WM ist noch einmal größer als in Italien.» Titelverteidigerin Anna van der Breggen hat allerdings wegen Formschwäche schon einmal abgesagt. Dafür dürfte Olympiasiegerin Annemiek van Vleuten um Gold fahren. Und die frischgebackene Europameisterin Marlen Reusser aus der Schweiz wird ebenfalls ein Top-Rennen abliefern.
Bei den Europameisterschaften vor einer Woche hat der BDR in den Zeitfahr-Wettbewerben mit vier Medaillen einmal mehr unterstrichen, dass er zu den führenden Nationen im Kampf gegen die Uhr gehört. Neben Silber in der Staffel und Bronze durch Brennauer, gab es auch noch die Silbermedaillen von Hannah Ludwig (U23) und Antonia Niedermaier (Juniorinnen) zu feiern. Die Klasse U23 wird bei der WM nicht starten. Aber in der Juniorenklasse hat Niedermaier (RSV Götting Bruckmühl) auch bei der WM eine gute Medaillenchance. Sie wird neben Selma Lantzsch (RSV SC Lübben) im Zeitfahren über 19,4 Kilometer an den Start gehen. Lantzsch belegte bei der EM einen guten siebten Platz.
Im Zeitfahren der U23 (30,3 km) will Michel Heßmann (Jumbo-Visma Development) endlich aufs Podium. Bei der EM verpasste der 20-Jährige als Vierter nur um wenige Sekunden den Sprung aufs Treppchen. Auch Teamkollege Maurice Ballerstedt, bei der EM Zehnter, wird alles geben. Bei den Junioren (19,4 km) ruhen die Hoffnungen auf Moritz Kärsten (RSC Linden) und Luis Joe Lührs (RC Die Schwalben München). Kärsten belegte im EM-Zeitfahren Rang zehn.