Saint-Amand-Montrond (dpa) - Das Tour-Organ «L'Équipe» hat bereits die Wachablösung gewittert. Das war aber offensichtlich ein wenig vorschnell.
«Cavendish regiert nicht mehr», hatte die französische Sporttageszeitung getitelt, nachdem Marcel Kittel mit seinen drei Etappensiegen bei der 100. Tour de France gehörig am Thron des etablierten Regenten Mark Cavendish gerüttelt hatte. Doch der britische Ex-Weltmeister konterte am Freitag umgehend mit seinem 25. Touretappensieg.
Allerdings waren Kittel in Saint-Amand-Montrond die Hände gebunden - er konnte in den direkten Kampf um den Tagessieg nicht eingreifen. Als einziger Sprinter war Cavendish in der Spitzengruppe des vom Wind zerrissenen Feldes geblieben und hatte keine Mühe, den Erfolg einzufahren.
Die Schlagzeilen gehörten bis dahin aber Kittel. Am Donnerstag hatte sich der Sonnyboy aus Thüringen in Tours in die Phalanx der erfolgreichsten deutschen Tourfahrer eingereiht. Rudi Altig (1962 und 66), Jan Ullrich (1998), Erik Zabel (1997 und 2001) und André Greipel im Vorjahr gewannen wie er drei Etappen in einer Tour-Ausgabe. Aber Kittel hat beim diesjährigen Jubiläum in Frankreich noch Luft nach oben.
Sein Sieg am Donnerstag im direkten Duell mit dem drei Jahre älteren britischen Meister könnte als deutliches Zeichen für den bevorstehenden Machtwechsel verstanden werden. Nicht nur, weil der Arnstädter am Ende schneller war und den größeren Punch hatte. Vor allem bewies Kittel in dem hektischen Finale große Übersicht und wartete geduldig auf den richtigen Moment für seinen Schlussspurt. «Das war ein unglaublich intelligenter Sprint», schwärmte Kittels Manager Jörg Werner, der seit Jahren auch die Geschicke von Tony Martin lenkt.
So cool Kittel im heißen Kampf Mann gegen Mann mit Cavendish blieb, so euphorisch war er nach dem endgültigen Beweis, dass er die «besten Sprinter der Welt» (Kittel) schlagen kann. «Drei Fakten» zu seinem triumphalen Tag kündigte er via Twitter an. Es wurden vier: «Das Team rockt, hatte eine zweite Dopingkontrolle im Hotel, kann das alles immer noch nicht fassen, habe meine Eltern angerufen - sie waren betrunken.» Der nächste Tweet kam kurz darauf. «Ein weiterer Fakt: Ich kann nicht zählen.»
Die sympathische Selbstironie und das strahlende Lächeln des großen Blonden mit den schnellen Beinen kommen auch in Frankreich gut an. Kittel ist damit das Gegenmodell zum 14 Zentimeter kleineren und 17 Kilogramm leichteren Cavendish. Der Mann von der Isle of Man wirkt oft missmutig, insbesondere nach Niederlagen. Im Ziel der zehnten Etappe in Saint Malo riss er einem Reporter das Diktiergerät aus der Hand, weil dieser ihm nach dem Sturz von Kittels Teamkollegen Tom Veelers die Schuldfrage gestellt hatte. Cavendish war an dem Crash maßgeblich beteiligt gewesen, von der Rennjury aber später freigesprochen worden.
Der Brite übernahm bis zu seiner Rückkehr in den Club der Sieger bei der diesjährigen Party in Frankreich die Rolle des Prügelknaben. Ein Zuschauer am Rand der Zeitfahr-Strecke zum Kloster Mont Saint-Michel vergaß sich in seiner Abneigung gegen den Omega-Sprintkapitän völlig, und bespritzte Cavendish mit Urin. Das war der Tiefpunkt seiner diesjährigen Tour-Erfahrungen. Am Freitag konnte er nun wieder sein Siegerlächeln zeigen.