Montpellier (dpa) - Es war ein trauriger Tag für den Radsport: Das Wetter ist sonnig, das Tempo zu Beginn der Etappe im Peleton nicht besonders hoch.
Bei besten Voraussetzungen nehmen die Fahrer auf dem Weg von Saint-Girons nach Cretes du Lys antriebslos die Abfahrt vom Col du Portet d'Aspet in Angriff. Noch herrscht lockerer Plauderton, noch halten sich alle Fahrer zurück. Wenig später ist es mit der Radsport-Idylle vorbei: Zu Beginn der Abfahrt kommt es bei Tempo 80 in einer Linkskurve zu einem Massensturz. Zusammengekrümmt liegt Fabio Casartelli, der mit dem Kopf an einen Begrenzungspfeiler aus Beton schlägt, in einer Blutlache. Nur wenig später erliegt er seinen schweren Verletzungen.
Casartelli wird nur 24 Jahre alt, hinterlässt seine Frau und seinen zwei Monate alten Sohn. Die Bilder vom sterbenden Italiener erschütterten am 18. Juli 1995 die Radwelt. Fast auf den Tag genau zehn Jahre danach passiert der Tour-Tross am 17. Juli in den Pyrenäen bei Kilometer 89 die Unglücksstelle. Ein Moment, der vor allem Lance Armstrong nahe gehen wird. Noch immer lassen ihn die Gedanken an seinen damaligen Mitstreiter aus dem Team Motorola nicht los. Noch während der Etappe erfährt er über Funk vom Tod seines Gefährten. «Wir mussten die Etappe zu Ende fahren, auch wenn wir zu Tode betrübt und vom Schock wie gelähmt waren», schrieb der Amerikaner in seinem Buch «Tour des Lebens».
Ähnlich schwer fallen Udo Bölts die Erinnerungen. «Keiner im Feld hat mehr gesprochen», sagt der ehemalige Telekom-Profi. Der ebenfalls in den Sturz verwickelte Johan Museeuw bricht im Ziel weinend zusammen. Für großen Unmut sorgt die Entscheidung der Tour-Direktion, die Etappe ungeachtet des Unglücks fortzusetzen. Wild jubelnd fährt der scheinbar unwissende Richard Virenque als erster über die Ziellinie, der zuvor informierte Tour-Chef Jean-Marie Leblanc im Begleitwagen kreidebleich hinterher. «Ich erfuhr 15 Kilometer vor dem Ziel vom Tod», erzählt Bölts.
Am Abend nach dem Tod von Casartelli diskutieren seine einstigen Teamkollegen, ob sie die Tour fortsetzen. «Ich persönlich hätte lieber aufgehört. Aber dann kam Fabios Frau zu uns und bat uns weiterzufahren. Da saßen wir nun hinter unserem Hotel im Gras, schickten ein paar Gebete zum Himmel und entschlossen uns weiterzufahren», erinnert sich Armstrong.
Mit einer «Lektion der Würde» (L'Équipe) reagieren die Fahrer einen Tag später auf den Tod des Olympiasiegers von Barcelona. Die Etappe von Tarbes nach Pau beginnt mit einer Schweigeminute, das nur leicht beschädigte und mit Trauerflor versehene Rad des Italieners geht auf dem Dach eines Mannschaftswagens mit auf die Strecke. Auf der Zielgeraden in Pau stoppt das Feld, die Teamkameraden von Casartelli fahren gemeinsam über die Ziellinie.
Zwei Tage später leistet Armstrong seine ganz persönliche Form der Trauerarbeit. Im Alleingang gewinnt er die Etappe nach Limoges: «Fabio hatte sich für diese Etappe besonders viel vorgenommen, Da habe ich diese Etappe für ihn gewonnen.» Im Ziel streckte er die Zeigefinger Richtung Himmel. Bis auf den heutigen Tag unterstützt der sechsmalige Gesamtsieger die Familie finanziell.
Am 10. Jahrestag des Todes und zweiten Ruhetag der diesjährigen Tour treffen sich Casartellis Familie und die Organisatoren am Denkmal des ehemaligen Radprofis. Auch Armstrong wird dabei seines Freundes gedenken. «Ich würde mir wünschen, dass die Medien uns dabei in Ruhe lassen. Das ist eine ganz persönliche Sache zwischen mir und Fabio.» Vor allem der Anblick des mittlerweile 10 Jahre alte Sohnes von Casartelli sorgt bei Armstrong für starke Gefühle. «Er ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.»