Nizza (dpa) - Als Tony Martin 2009 erstmals bei der Tour de France an den Start ging, war Primoz Roglic noch als Skispringer unterwegs. Und das gar nicht mal so schlecht.
Junioren-Weltmeister mit der Mannschaft wurde der Slowene 2007, beachtliche 183 Meter schaffte er einmal im Skisprung-Mekka Planica. Doch nach einem üblen Sturz war Schluss. Roglic fuhr lieber mit dem Rad die Berge hoch, als sie mit den Ski hinunterzufliegen.
Wenn Martin nun am Samstag zum zwölften Mal bei der Tour losrollt, steht für den viermaligen Zeitfahr-Weltmeister fest: Dieser Roglic ist der große Favorit auf den Gesamtsieg. «Ganz klar», sagt Martin im dpa-Interview und gerät bei seinem Teamkollegen geradezu ins Schwärmen: «Er bringt viel Erfahrung aus dem Skisprung mit, die ihn mental sehr stark macht. Sein größter Pluspunkt neben seinem begnadeten Körper ist seine Gelassenheit. Er hat viel Potenzial, was in den nächsten Jahren noch dazukommen wird. Hier ist kein Ende der Fahnenstange erreicht.»
Es ist schon eine verrückte Geschichte. Erst 2016 gab der Slowene sein Profidebüt, da war er schon 26 Jahre. Doch allzu viel Zeit verschwendete «Rogla», wie ihn seine Fans rufen, nicht. Noch im gleichen Jahr gewann er eine Etappe beim Giro d'Italia, ein Jahr später dann bei der Tour de France. Und es dauerte nicht lange, dann war er ein kompletter Rundfahrer: Vierter bei der Tour 2018, Dritter beim Giro 2019 und schließlich Vuelta-Gesamtsieger im September vergangenen Jahres. «Die Entwicklung ist verblüffend, aber auch erklärbar und nachvollziehbar», erklärt Martin, bevor verdächtige Fragen geäußert werden.
Nun also folgt der Angriff auf das Gelbe Trikot. Im Vorfeld der Tour präsentierte sich das Leichtgewicht (65 Kilogramm) in prächtiger Verfassung, fuhr dem größten Rivalen und Titelverteidiger Egan Bernal aus Kolumbien regelmäßig davon. Fünf Siege in neun Renntagen, kein Tag davon schlechter als Platz zehn. Chapeau! «Ich bin bereit», sagt Roglic. Der Tour-Sieg wäre ein Traum für ihn.
So richtig begreifen kann er seine Entwicklung selbst nicht. «Die Dinge haben sich sehr schnell entwickelt. Ich bin als Amateur gestartet und fahre nun gegen die Besten.» Vielleicht ist er schon selbst bald der Beste. Denn eigentlich bringt er alles mit für den Tour-Sieg. Weltklasse in den Bergen, ein überragender Zeitfahrer und auch ein passabler Sprinter aus kleineren Gruppen heraus - Bernal wird sich etwas einfallen lassen müssen.
Dazu hat Roglic mit der Jumbo-Visma-Mannschaft ein überragendes Team an seiner Seite. Dass bis zu den Bergen nichts schief geht, dafür soll Martin sorgen. «Es ist für mich das erste Mal, dass ich mit solchen ambitionierten Teammitgliedern reingehe. Also mit einem Mann, der der Topfavorit auf das Gelbe Trikot ist», sagt der 35 Jahre alte Routinier, der viel im Wind fahren werde und sich als «Mann für das Grobe» bezeichnet.
Für den Rest muss Roglic selbst sorgen. Und er sollte Stürze vermeiden, wie zuletzt bei der Dauphiné-Rundfahrt, als er aufgeben musste. Sein deutscher Sportdirektor Grischa Niermann gab allerdings Entwarnung: «Er hat in der Höhe gut trainiert. Er ist da, und wir sind komplett vorbereitet.» Stürze auf dem Rad sind dann meistens doch weniger schmerzlich als auf der Schanze.