Oyama (dpa/rad-net) - Ihre für diesen Sommer geplante Hochzeit hatte Annika Zeyen verschoben, um ein Stück Paralympics-Geschichte zu schreiben. Der Plan ging auf. Und als sie tatsächlich in der zweiten Sommer-Sportart Paralympics-Gold gewonnen hatte, war ihr Verlobter der erste Gratulant.
Von England aus rief er eine Kollegin Zeyens an und ließ sich durchstellen. «Schön, wenn man Kolleginnen im Ziel hat», sagte Zeyen, die als Brand Manager für das Internationale Paralympische Komitee (IPC) arbeitet.
Ihr Sieg im Zeitfahren mit dem Handbike, den sie mit 43 Sekunden Vorsprung auf Francesca Porcellato (Italien) und 1:03 Minuten vor Renata Kałuża (Polen) errang, war nicht nur ungewöhnlich, weil sie die einzige IPC-Angestellte ist, die in Tokio startet und die einzige, die je einen Titel holte. Sondern auch, weil die querschnittsgelähmte Bonnerin 2012 noch Gold im Rollstuhlbasketball gewonnen hatte. «In zwei verschiedenen Sportarten Gold zu gewinnen, ist unglaublich. Das kann man nicht toppen», sagte die 36-Jährige, die erst seit zweieinhalb Jahren internationale Handbike-Rennen absolviert.
Emotionaler Morgen
Es war der sportliche Höhepunkt an einem aus deutscher Sicht sehr emotionalen Morgen auf der ehemaligen Formel-1-Strecke am Fuße des Fuji. Sehr bewegend war die Bronzemedaille für Kerstin Brachtendorf. Denn die 49-Jährige, die mit einem unbeweglichen Sprunggelenk fährt, hatte erst 19 Tage zuvor eine Gefäß-Operation über sich ergehen lassen müssen. «Ich bin vor drei Wochen aus dem Trainingslager direkt in den Operationssaal. Da war im Kopf eigentlich schon alles abgesagt», sagte die Cottbuserin: «Und jetzt stehe ich hier und habe eine Medaille. Das ist unfassbar.» Nach einem Verschluss der inneren Beckenaterie war ihr ein Stent gesetzt worden.
Vico Merklein (Nendorf) holte mit Silber im Handbike sein bestes Zeitfahr-Ergebnis. Fahnenträger Michael Teuber (München) war mit Bronze zufrieden, obwohl er den vierten Titel in Folge verpasst hatte. Dagegen bezeichnete Multitalent Andrea Eskau (Magdeburg) ihren fünften Platz nach Führung in der ersten Runde als «sehr ärgerlich und traurig». Es wäre die 16. Medaille für die achtmalige Paralympicssiegerin im Sommer oder Winter gewesen. Denise Schindler (München), die nach Bronze auf der Bahn nur Neunte wurde, sprach von einem «schwarzen Tag».
Doch die Schlagzeilen am Dienstag gehörten Annika Zeyen. Denn in Zeiten der Professionalisierung im Para-Sport sind Siege in zwei so unähnlichen Sportarten eigentlich kaum machbar. «Schon als Basketballerin bin ich für die Ausdauer immer Handbike gefahren. So ganz abwegig war das also nicht», sagte Zeyen lachend. Als sie 2016 ihre Basketball-Karriere beendete, versuchte sie sich dennoch zuerst als Rennrollstuhlfahrerin in der Leichtathletik. «Das hat mir Spaß gemacht, aber ich konnte es verletzungsbedingt nicht fortsetzen», sagte sie: «Heute bin ich überglücklich, dass ich das Handbike gewählt habe.» Ein Zeitfahren hatte sie zuvor noch nie gewonnen. «Heute war ein wirklich guter Augenblick dafür», sagte sie fröhlich.
Schluss mit Basketball
Mit Basketball hatte sie aufgehört, um sich nicht mehr nach den Trainingszeiten des Vereins und der Nationalmannschaften richten zu müssen. «Im Einzelsport trainiert man nicht weniger, aber flexibler», sagte sie. Und obwohl die beiden Sportarten sich auf den ersten Blick grundlegend unterscheiden, hat sie viel aus ihrer ersten Karriere mitgenommen. «Ich war schon viele Jahre Leistungssportlerin», sagte sie: «Ich weiß, was es heißt, sich zu quälen. Und ich bin sehr ehrgeizig und trainingsfleißig.»
Deshalb wurde nach der coronabedingten Absage der Spiele im Vorjahr sogar die Hochzeit verschoben. Doch nun wird Annika Zeyen als doppelte Paralympicssiegerin vor den Altar treten.