Saint-Jean-de-Maurienne (dpa) - Trotz einer viel zu kurzen Nacht wollte das Strahlen aus dem bärtigen Gesicht von Simon Geschke gar nicht mehr weichen.
Viele Kollegen wie Alejandro Valverde klopften dem Berliner mit dem großen Kämpferherz vor dem Start der 18. Etappe hochachtungsvoll auf die Schulter. Großer Applaus brandete noch einmal auf, als sein Name bei der Einschreibung ertönte. «Ich werde noch lange brauchen, um das zu realisieren», sagte Geschke und hat für die noch folgenden Alpen-Etappen der 102. Tour de France nur ein Ziel: «Ich möchte die nächsten Tage überleben und Paris erreichen.»
Bis «über die Schmerzgrenze hinaus» war Geschke bei seinem 49 Kilometer langen Soloritt am Mittwoch gegangen. Kraftraubend war auch, was nach dem so herbeigesehnten ersten Erfolg seines deutschen Giant-Alpecin-Teams folgte. Ein Interviewmarathon samt Live-Auftritt im belgischen Fernsehen stand für den ersten deutschen Gewinner einer Tour-Bergetappe seit Linus Gerdemanns Erfolg 2007 auf dem Programm, erst danach wurden die Champagnerflaschen im Hotel Club Le Serre du Villard geöffnet. «Um drei Uhr habe ich die Augen zugemacht», berichtete der nächste Held der deutschen Radsport-Erfolgsstory bei der Tour.
Nach dem 18. deutschen Tagessieg eines deutschen Fahrers seit 2013 - also 32 Prozent aller Etappen - erinnerte das Tour-Organ «L'Equipe» mit einer Mischung aus Bewunderung und Frust an einen Spruch von Gary Lineker aus dem Fußball: «Und zum Schluss sind es wieder die Deutschen, die gewinnen.»
Als einer der ersten Gratulanten schickte Marcel Kittel Glückwünsche nach Frankreich. «Das ist es, was diesen Sport so großartig macht. Es geht darum, Träume zu verfolgen. Simon hat sie wahr gemacht. So schön mitanzusehen», twitterte der Topsprinter, dessen Nichtberücksichtigung erst Geschke zur Tour-Teilnahme verholfen und das Giant-Alpecin-Team vor eine Zerreißprobe gestellt hatte.
Viel Kritik mussten die Verantwortlichen um Teamchef Iwan Spekenbrink nach der Ausbootung von Kittel einstecken, nach dem Sieg von Geschke sahen sie sich in ihrer Entscheidung bestätigt. «Das ist die Krönung für eine gute Tour. Eigentlich haben wir die beste Mannschaft hier, die wir jemals bei der Tour hatten. In den letzten Jahren haben wir uns nur auf die flachen Sprints konzentriert. Jetzt sind wir auf fast jeder Etappe ins Finale gefahren und haben viele zweite, dritte und vierte Plätze geholt», sagte Spekenbrink.
Mit Kittel sei es in den letzten Jahren ein Selbstläufer gewesen, ergänzte Geschke, der aber trotz der vielen Enttäuschungen von einer guten Stimmung im Team sprach: «Wir sind hier vier Wochen auf engstem Raum zusammen und haben wenig Privatsphäre. Wir hatten Höhen und Tiefen, auch durch die zwei Ausfälle. Aber die Atmosphäre ist trotzdem immer super.»
Regelmäßig war Kapitän John Degenkolb in den zurückliegenden zweieinhalb Wochen an einem Sieg vorbeigefahren. Dass aber ausgerechnet Geschke die Mannschaft erlösen würde, damit hätte kaum einer gerechnet. Erst zwei Profisiege in sechs Jahren hatte der Sohn des früheren Sprintweltmeisters Jürgen Geschke zuvor geholt. Dazu waren viele vergebliche Ausreißversuche in Fluchtgruppen gekommen. Auch wenn es jetzt geklappt hat, bleibt der markante Bart aber dran. «Sonst erkennt mich doch keiner mehr», scherzte Geschke.