Obernai (dpa) - Eine Tour de France ohne Gelbes Trikot für sein Team ist für Johan Bruyneel «unvorstellbar». Dieses Szenario bleibt dem belgischen Manager von Discovery Chanell, in den vergangenen sieben Jahren Spiritus rector des Seriensiegers Lance Armstrong, auch in diesem Jahr erspart.
In einem Team ohne - offiziell - festgelegten Leader fährt der 33-jährige New Yorker George Hincapie bereits auf der zweiten Etappe an der Spitze des 176 Fahrer starken Feldes. Zwei Sekunden aus dem letzten Bonussprint 9 Kilometer vor dem Ziel in Straßburg bescherten ihm am Sonntag das Gelbe Trikot, mit dem er sich in seiner 13-jährigen Karriere zum ersten Mal schmücken durfte. 1998 stand Hincapie schon ein Mal zwei Sekunden davor - diesmal hat es endlich geklappt: «Das waren die längsten zwei Sekunden meines Lebens».
Der ehemalige Armstrong-Leutnant der vergangenen sieben Jahre also als Nachfolger des Ex-Generals? Das wäre in den Augen Hincapies, der im Prolog von Thor Hushovd nur um hundertstel Sekunden geschlagen wurde, fast Majestätsbeleidigung. «Ich muss kein Leader von Discovery sein. Das sind Worte in den Zeitungen, und bei uns im Team ist keiner im Stande Lance zu ersetzen», stellte Hincapie richtig. Auch ohne den zurückgetretenen Armstrong scheint Bruynell für diese Tour bestens aufgestellt: Hincapie, der im Vorjahr die Königsetappe gewann und ein starker Zeitfahrer ist, besetzt jetzt die Pole-Position. Als Trümpfe gelten dazu der Russe Jaroslaw Popowitsch, José Azevedo (Portugal) und der verhinderte Giro-Sieger Paolo Savoldelli aus Italien.
«Eigentlich war unser Plan, bis zum ersten Zeitfahren am Samstag in Rennes abzuwarten. Nachdem ich das Gelbe Trikot im Prolog so knapp verpasst hatte, und ich die Chance am Sonntag im letzten Bonussprint nutzen konnte, sieht die Sache nun anders aus. Aber Johan muss entscheiden, ob wir versuchen, das Trikot jetzt schon verteidigen wollen. In den Pyrenäen und Alpen hoffe ich, mit den Besten mitgehen zu können», sagte der lange Hincapie, der ein ganz schlimmes Frühjahr hinter sich hat.
Mit hohen Ambitionen und großer Form stand er im April am Start von Paris-Roubaix. Das Kopfsteinpflaster wurde ihm zum Verhängnis: Sein Lenker-Vorbau brach in voller Fahrt, er stürzte ins Feld und verletzte sich schwer an der Schulter. Zum Glück musste nicht operiert werden, und er saß drei Wochen nach dem Unfall schon wieder auf dem Rad: «Der Sturz war ein Schock für mich, aber ich hatte nicht viel Zeit nachzudenken und musste mich sofort auf die Tour vorbereiten.»
Im Gegensatz zu Tyler Hamilton (wegen Dopings gesperrt), Kevin Livingston (Karriere beendet), Roberto Heras (gesperrt) und Levi Leipheimer (Gerolsteiner) hielt Hincapie seinem Freund Armstrong immer die mannschaftliche Treue. Der Texaner, über dessen Doping-Anschuldigungen nach den aktuellen Ereignissen nicht mehr so vehement diskutiert wird wie vor der Tour, ist zu einem Drittel Mitbesitzer des Teams. Er wird auch leibhaftig bei der Tour erwartet, obwohl er mit den Veranstaltern und der französischen Presse seit dem vorigen Jahr wegen der wissenschaftlich untermauerten Beschuldigungen über Kreuz liegt.
Unmittelbar nach seinem siebten Sieg in Serie hatte Armstrong, schon mehr Unternehmer als Radprofi, erklärt: «Unser Publikum und unsere Kunden brauchen in Zukunft einen amerikanischen Namen bei der Tour.» Hincapie ist auf dem besten Weg, die hohen Erwartungen zu erfüllen.