Frankfurt (rad-net) - Insgesamt fünf WM-Titel im Einzel- und Mannschaftszeitfahren, fünf nationale Meistertrikots, eine WM-Silber- und zwei Bronzemedaillen, dazu der zweite Platz bei den Olympischen Spielen in London: Tony Martin ist einer der weltbesten Zeitfahrer und gilt als große Medaillenhoffnung für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro.
Eigentlich. Denn nach der Streckenbesichtigung im Herbst letzten Jahres bekam Martins Vorfreude auf das bedeutendste aller Sportevents einen Dämpfer: «Das ist kein Kurs für Zeitfahrer, sondern eher etwas für Bergfahrer, die auch Zeitfahren können. Die Strecke führt über einen Berg, der in der Spitze 20 Prozent Steigung hat. Das ist nichts für mich», sagt Martin. Als geschlagener Mann will der Olympia-Zweite von London aber nicht vom Platz gehen. «Nach der ersten Enttäuschung und den negativen Eindrücken habe eine Art Kampfgeist entwickelt. Inzwischen freue ich mich, dieses Projekt anzugehen und mir selber Druck zu nehmen, zwingend um Gold mitfahren zu müssen. Es ist zwar eine Floskel, dass dabei sein alles ist, doch bei Olympischen Spielen gilt das doch. Deshalb freue ich mich auf Rio. Manchmal hat man ja seinen goldenen Tag, an dem alles so läuft wie es soll.»
Rio jedenfalls hat der 30-Jährige fest im Plan, und der Bund Deutscher Radfahrer setzt fest auf das Zeitfahr-Ass, auf seine Klasse und seine Erfahrung. Dass er im letzten Jahr bei der WM in Richmond in den USA «patzte» und nur Siebter wurde, hat ihn lange beschäftigt. Dass dies an dem bei der Tour erlittenen Schlüsselbeinbruch und dem andauernden Heilungsprozess gelegen haben könnte, schloss er aus. Er hatte sich selbst im Vorfeld der Titelkämpfe zu viel Druck gemacht, denn er machte immer wieder deutlich «dass nur der Titel zählt». Rio geht Martin anders an, lockerer, mit nicht so viel Druck, aber mit der gleichen professionellen Vorbereitung, die man vom den 30-Jährigen Wahlschweizer gewohnt ist.
Tony Martin überlässt nichts dem Zufall, plant genau. Training, Ernährung, Wettkampfkalender, sein persönliches Umfeld, alles ist den sportlichen Zielen untergeordnet. Auch seine Hochzeit muss deshalb warten. Die Tour 2015 und Olympia 2016 haben Vorrang.
Und für den Erfolg in der Tour des vergangenen Jahres hat sich der Verzicht in jedem Fall gelohnt: Da schlüpfte Martin ins Gelbe Trikot des Spitzenreiters, feierte seinen insgesamt fünften Tour-Etappensieg und war am Ziel seiner Träume. Selten zuvor hat jemand so hart und verzweifelt um das begehrte «maillot jaune» kämpfen müssen. Aber genau das ist es, was Tony Martin auszeichnet: Nie aufgeben, immer bereit sein, alles zu geben, auch wenn es fast aussichtslos scheint.
Die Große Schleife begann im letzten Jahr mit einem knapp 14 Kilometer langen Einzelzeitfahren. Eine für Martin eigentlich zu kurze Distanz. Trotzdem machte sich der gebürtige Cottbuser berechtigte Hoffnungen auf das Gelbe Trikot. Doch er verpasste es um gerade einmal fünf Sekunden. Die Dramatik spitze sich auf den folgenden beiden Etappen zu, als Martin jeweils knapp den Sprung ins Gelbe verpasste, zum Schluss um die Winzigkeit von einer Sekunde. Im vierten Anlauf aber wurde sein großer Kampfeswillen endlich belohnt. Mit einem beherzten Solo auf den letzten drei Kilometern auf der schweren Kopfsteinpflasterstrecke nach Cambrai übernahm er mit seinem Etappensieg auch die Führung in der Gesamtwertung und schlüpfte endlich ins begehrte Gelbe Trikot. Zwei Tage später aber stürzte er im Ziel der sechsten Etappe schwer, brach sich das Schlüsselbein und musste aufgeben.
Tony Martin ist in Eschborn in der Nähe von Frankfurt aufgewachsen und begann seine Radsportkarriere beim RV Sossenheim. 2001 wechselte er aufs Sportinternat nach Erfurt und später auch zum dortigen Thüringer Energie Team. Seine Zeitfahr-Qualitäten zeigten sich früh: bereits 2003 wurde er deutscher Juniorenmeister, ein Jahr später schmückte er sich mit dem Meistertitel in der Mannschaftsverfolgung.
Im Jahr 2005 konnte er seinen ersten Profisieg bei dem deutschen ProTeam Gerolsteiner als Stagiaire feiern, als er das schwere Zeitfahren der Regio-Tour auf den Kandel gewann. Trotzdem wechselte er danach nichts ins Profilager, sondern blieb noch zwei Jahre Amateur, feierte Etappensiege im Giro delle Regioni und holte den Gesamtsieg in der Thüringen-Rundfahrt.
2008 wurde er dann Profi beim Team Colombia und überraschte ein Jahr später als Gesamtzweiter in der Tour de Suisse. In der folgenden Tour trug er zwölf Tage das Trikot des besten Jungprofis, überzeugte als Zweiter am Mont Ventoux und gewann im Herbst bei der Zeitfahr-WM in Mendrisio seine erste WM-Medaille (Bronze). Von da an ging es mit seiner Karriere steil bergauf: Martin sammelte zahlreiche Zeitfahrsiege bei allen großen Etappenrennen und landete im März 2011 mit dem Triumph bei Paris-Nizza seinen zweiten Rundfahrt-Gesamtsieg nach der Eneco-Tour im Jahr zuvor. Im gleichen Jahr wurde er in Kopenhagen zum ersten Mal Zeitfahr-Weltmeister. Zwei weitere Titel folgten und außerdem wurde er zwei Mal Weltmeister mit dem belgischen Team Etixx-Quick Step, wohin er 2012 wechselte und bis heute fährt.
Trotz seiner großen Erfolgsbilanz verlief Martins Karriere nicht immer glatt: Im April 2012 verunglückte er im Training und verletzte sich schwer. Auf der ersten Etappe der Tour zog er sich im gleichen Jahr bei einem Sturz einen Kahnbeinbruch zu. Das waren alles andere als ideale Voraussetzungen für die Olympischen Spiele in London. Trotzdem schaffte es Tony Martin auf Platz zwei, hinter Lokalmatador Bradley Wiggins. Darum darf man - trotz der für Martin ungünstigen Streckenführung - für Rio hoffen.
In regelmäßigen Abständen werden wir künftig die potentiellen Olympiakandiaten des BDR für Rio 2016 für die Disziplinen Bahn, Straße, Mountainbike und BMX präsentieren.
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