Perugia (rad-net) - Nachdem die erste Hälfte des aktuellen Giro d'Italia besonders vom Kampf um Sekunden geprägt war, erwartet Egan Bernal in den kommenden Tagen größere Zeitabstände im Gesamtklassement. Während einer Pressekonferenz am gestrigen Dienstag erklärte der aktuell Gesamtführende, dass der Kampf um die Gesamtwertung erst in der zweiten Hälfte richtig losginge und er bis zum finalen Zeitfahren in gut eineinhalb Wochen 90 Sekunden auf die Konkurrenz herausfahren wolle.
«Bis jetzt haben wir nur um Sekunden gekämpft, aber von jetzt an werden die Abstände größer werden», prophezeite der Kolumbianer am gestrigen Ruhetag. «Die zweite Hälfte des Giros ist viel härter. Da stehen einige intensive Tage bevor.»
Bernal gewann am vergangenen Sonntag die neunte Etappe des Giros und übernahm damit das Rosa Trikot des Gesamtführenden. 14 Sekunden liegt der Fahrer von Ineos Grenadiers zurzeit vor dem Zweitplatzierten Remco Evenepoel (Deceuninck-Quick Step), ein Abstand, den der 24-Jährige bis zum Zeitfahren in Mailand am 30. Mai auf das sechsfache ausweiten will. Je nachdem, welche Fahrer am Finaltag in Reichweite des Rosa Trikots seien, müsse der Vorsprung auf bis zu 90 Sekunden anwachsen, kalkulierte Bernal weiter: «Sollte es ein Zeitfahr-Spezialist wie Remco sein, dann wäre weniger als eine Minute riskant. Gut wären circa 90 Sekunden Vorsprung auf einen Zeitfahrer.» Er könne zwar nicht jeden Tag attackieren, benötige aber Vorsprung, ehe der Kampf gegen die Uhr in Mailand ansteht. «Und das wird über die Taktik entscheiden. Zum Glück bin ich in einer sehr guten Position in der Gesamtwertung, so dass ich die Dinge ruhig angehen kann.»
In der zweiten Hälfte des Giros stehen für Bernal jedoch noch einige Hindernisse auf dem Weg nach Mailand an. Am heutigen Mittwoch bestreitet das Peloton eine Etappe, die 35 Kilometer Schotterstraßen beinhaltet, bevor es im Laufe der nächsten Tage in die Alpen und Dolomiten geht. Bernal hat die unbefestigten Straßen zwar schon bei der Strade Bianche Anfang März befahren – hier wurde der Fahrer damals Dritter hinter Mathieu van der Poel und Julian Alaphilippe – doch er warnte schon jetzt davor, dass der Giro eine andere Voraussetzung darstelle als ein Eintagesrennen. «Strade ist ein Eintagesrennen, an dem viele Klassiker-Fahrer teilnehmen und es ist ein Alles-oder-Nichts-Tag. Ein Platten, ein Sturz und Du verlierst eine Menge Optionen. [...] Hier verliert man nicht sofort alles, weil es ein Etappenrennen ist. Wir schauen auf das Gesamtklassement, also gehen die Fahrer weniger Risiken ein. Zudem gibt es morgen weniger Schotter-Kilometer», machte Bernal den Unterschied der beiden Rennen deutlich. «Ich denke die schnellen Sektoren werden den meisten Schaden anrichten. Außerdem könnten die Jungs Zeit am Beginn der Abschnitte verlieren. Positionierung wird wichtig sein. [...] Ich persönlich bin schon glücklich, wenn ich keine Zeit verliere.»
Insgesamt zeigte sich der Sieger der Tour de France 2019 über seine derzeitige Form beinahe überrascht. Im vergangenen Jahr hatte er noch die Saison aufgrund von Rückenschmerzen frühzeitig beendet und war demnach mit einer geringeren Erwartungshaltung in die erste große Landesrundfahrt der Saison gestartet: «Meine Vorbereitung lief nicht ideal, also habe ich auf die zweite und dritte Woche abgezielt. Um Etappen und Boni zu kämpfen, war ursprünglich nicht der Plan. Aber die Emotionen und das Adrenalin haben geholfen. Ich habe einfach ein paar Chancen für mich gesehen und sie genutzt.»