Paris (dpa) - Das Duell zwischen Lance Armstrong und Jan Ullrich hat die Jubiläums-Tour zu einer Hitchcock-Rundfahrt gemacht, die die Sportwelt 23 Tage lang in Atem hielt. Bei seinem fünften Erfolg hintereinander musste der 31-jährige Amerikaner so viel Widerstand brechen wie noch nie seit Beginn seiner Siegesserie 1999.
Herausforderer Ullrich, trotz ungünstiger Voraussetzungen so stark wie seit seinem Erfolgsjahr 1997 nicht mehr, wurde bei seiner sechsten Teilnahme zum fünften Mal Zweiter. Nach 3427,5 km trennten den Olympiasieger zum Ende der 100. Großen Schleife nur 1:01 Minuten von Armstrong, der als fünfter Fahrer in die Reihe der Fünffach-Gewinner der Tour de France aufstieg. Der Amerikaner genehmigte sich beim Finale ein Glas Champagner und rollte 15 Sekunden nach Ullrich durchs Ziel.
Zur größten Überraschung neben Ullrich, der Armstrong für 2004 mit den Worten «jetzt erst recht» Revanche ankündigte, wurde sein ehemaliger Team-Kollege Alexander Winokurow. Der Olympia-Zweite aus Kasachstan wurde hinter den beiden Tour-Giganten Dritter mit 4:14 Minuten Rückstand. Der Amerikaner Tyler Hamilton fuhr mit einem Haarriss im Schlüsselbein, den er sich beim Massensturz auf der ersten Etappe zugezogen hatte, auf Rang vier.
Fast so spannend wie der Kampf um das Gelbe Trikot war das Gerangel um das Grüne Trikot des besten Sprinters. Der Australier Baden Cooke, der nach 152 km beim Tour-Finale auf den Champs Elysees den zweiten Platz hinter Tagessieger Jean-Patrick Nazon aus Frankreich belegte, holte sich erstmals den Sieg in der Punktwertung vor seinem Landsmann Robbie McEwen. Zum ersten Mal seit 1995 ging der deutsche Meister Erik Zabel (Unna) bei der Tour völlig leer aus. Ein Etappensieg blieb ihm versagt, in der Punktwertung blieb dem gebürtigen Berliner, der in Lyon schwer stürzte, nur Rang drei. Auf der letzten Etappe von Ville d'Avray am Stadtrand von Paris auf den von hunderttausenden Menschen gesäumten Prachtboulevard spurtete der zwölffache Etappensieger der Tour auf den siebten Platz.
Sein ehemaliger Team-Kollege Ullrich gewann eine Etappe, doch beim entscheidenden Zeitfahren über 49 Kilometer von Pornic nach Nantes war der Wahl-Schweizer vom Pech verfolgt. 13 km vor dem Ziel der vom Schotten David Millar gewonnenen Etappe stürzte Ullrich bei wolkenbruchartigem Regen und musste seinen Traum endgültig begraben, doch noch einmal ins Gelbe Trikot zu fahren.
Sein Zeitfahrsieg in Cap Découverte in Indurain-Manier hatte den Thron Armstrongs erheblich ins Wanken gebracht. Aber der alte und neue Tour-Patron, der mit Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Bernard Hinault und Miguel Indurain gleichzog, fiel nicht. Ein Sturz auf der zweiten Pyrenäen-Etappe war für ihn nach einer Schrecksekunde das entscheidende Signal zur Wende. Er stand auf und startete auf dem Weg nach Luz Ardiden eine Attacke, die Ullrich nicht kontern konnte und die die Basis für seinen fünften Sieg in Folge schaffte.
Dabei profitierte Armstrong auch von der Fairness Ullrichs, der nach dem Unfall in seinem Elan kurz eingehalten hatte, um den Texaner wieder an die Spitzengruppe herankommen zu lassen. Genauso hatte sich Armstrong vor zwei Jahren beim Sturz Ullrichs verhalten - mit dem Unterschied, dass sein Vorsprung damals schon sehr komfortabel war und ihm die Geste entsprechend leichter fiel. Auch für das kommende Jahr prophezeite Armstrong Ullrich, der am Sonntag seine Lebenspartnerin Gaby und seine vier Tage vor Tour-Beginn geborene Tochter Sarah Maria in die Arme schließen konnte, die Verfolgerrolle: «Ich komme zurück - nicht, um Zweiter zu werden.»
Die 90. Tour war in jeder Beziehung eine Rundfahrt der Superlative. Armstrong, der im kommenden Jahr erster sechsfacher Sieger werden könnte, fuhr mit 40,94 km/h ein Stundenmittel wie bisher keiner in der 100-jährigen Tour-Geschichte. Armstrong verbesserte damit seine eigene Bestmarke von 1999 (40,27). An den Straßen in Frankreich sollen nach Zeitungsangaben in 23 Tour-Tagen zusammen rund 20 Millionen Menschen gestanden haben. Am Fernseher verfolgten in Deutschland in der Spitze bis zu neun Millionen Zuschauer die Tour de France, und damit mehr als in den Vorjahren.
Passend zu den Feierlichkeiten gab es kurz vor dem Ende trotz weiter gesteigerter Kontrollen keine Doping-Unruhe. Am letzten Tag mussten die Tour-Veranstalter allerdings einen möglichen EPO-Fall bestätigen, ohne Team oder Nationalität des Ertappten zu nennen.