Dublin (dpa) - In Belfast wie in Dublin flogen Radprofi Marcel Kittel die Herzen der Fans zu. Und das nicht nur, weil der blonde Arnstädter beim Irland-Auftakt des Giro d'Italia zu zwei spektakulären Etappenerfolgen kam. Er bleibt auch im Stress freundlich und gelassen.
Zudem beeindruckte Kittel die kernigen Iren, wie er sich seine Siege erarbeitet: Im Stil eines Rugbyspielers, der mit Cleverness, Entschlossenheit und dem notwendigen Muskeleinsatz die Lücke findet.
Kittel steht im Moment an der Spitze des immer breiter aufgestellten deutschen Radsports, der vielerorts mit Lob überschüttet wird. Zu Hause herrscht bei der breiten Masse jedoch weiter Desinteresse am erfolgreichen Auftritt der Herren Kittel, John Degenkolb, im April Sieger von Gent-Wevelgem, Tony Martin, André Greipel und Co. Der Jan-Ullrich-Schock scheint in Deutschland noch immer tief zu sitzen, obwohl die «neue Generation» offener und glaubhafter mit dem Reizthema Doping umgeht.
Kittel berichtete von seiner phänomenalen Aufholjagd auf der Zielgeraden am Sonntag im verregneten Dublin: «Ich war eingeklemmt zwischen zwei Fahrern und konnte mich entscheiden, ob ich sie vorlasse oder stürze». Er fiel zurück in die zwölfte Position, katapultierte sich dann aber noch als Erster über den Zielstrich. In seiner Erschöpfung und Freude war das Geburtstagskind danach das Sympathiezentrum des Giro.
Die Verblüffung über die Diskrepanz zwischen den exzellenten Leistungen und der geringen medialen Resonanz wächst. Von Kittels Taten zum Giro-Auftakt berichten zwei deutsche Journalisten, TV-Teams: Fehlanzeige. «Es ist nicht mein Job, die Medien zurückzuholen, alles was ich kann, ist Rennen zu gewinnen», sagte Kittel dazu.
Deutschland kann derzeit drei der vier stärksten Sprinter der Welt aufbieten. Während der im Juli 32 Jahre werdende Greipel auf seinem physischen Top-Niveau angekommen scheint, sind bei dem Mittzwanzigern Degenkolb und Kittel noch Steigerungen zu erwarten. «Nicht unbedingt, was die Sprintstärke anbelangt. Aber gerade Marcel hat enorm an Widerstandskraft gewonnen. Er kommt viel besser über die Berge», sagte Giant-Shimano-Sportchef Addy Engels. Noch Potenzial sieht auch Tony Martin.
Der dreifache Zeitfahr-Weltmeister ist längst ein Aushängeschild des deutschen Radsports und mehr als nur ein Spezialist im Kampf gegen die Uhr. «Tony ist mehr. Er hat im Team eine wichtige Position. Er kann sich in den Bergen weiter stabilisieren und bei kleineren Rundfahrten Ergebnisse erreichen», sagte Rolf Aldag, Sportlicher Leiter bei Martins Team Omega Pharma-Quick Step.
Vier Jahre nach dem Ausstieg von Milram ist ein deutsches WorldTour-Team weiter Zukunftsmusik. Immerhin ist in diesem Jahr mit dem Zweitligisten NetApp-Endura wieder ein deutscher Rennstall beim Saisonhöhepunkt in Frankreich dabei.