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Geht als Titelverteidiger in die Tour de France: Egan Bernal aus Kolumbien vom Team Ineos. Foto: David Stockman/BELGA/dpa
28.08.2020 16:41
«Rote Zone» Nizza - Corona-Angst begleitet Tour de France

Nizza (dpa) - Der Lärm kam aus den Boxen, die wenigen Gäste auf dem viel zu groß wirkenden Platz Masséna wurden mit Plastik-Klatschhänden ausgestattet.

Die große Fete als Ouvertüre zur 107. Tour de France fand nur in kleinem Rahmen statt. Nachdem im Vorjahr mehr als 75.000 Fans in Brüssel die Fahrer und Rad-Legende Eddy Merckx bejubelten, verloren sich diesmal weniger als die erlaubten 1000 Zuschauer vor der großen Bühne in Nizza.

Aus gutem Grund. Die Region an der Côte d'Azur ist seit Donnerstag wegen der stark ansteigenden Corona-Infektionszahlen zur «Roten Zone» erklärt worden - wie 20 weitere Départements der Grande Nation auch. Maskenpflicht ist auch im Freien oberstes Gebot, entsprechend präsentierte sich Deutschlands Hoffnungsträger Emanuel Buchmann mit einem schicken Mundschutz im Team-Outfit und der Aufschrift: «Bonjour Le Tour». Doch auch der deutsche Radstar stellte fest: «Die Partystimmung ist nicht da.»

Stattdessen wurden die 176 Fahrer auf eine Reise ins Ungewisse geschickt. Ob die Tour tatsächlich nach 3484,2 Kilometern die Hauptstadt Paris - für die es laut Robert-Koch-Institut übrigens auch eine Reisewarnung gibt - erreichen wird, ist mehr als fraglich. Die Infektionszahlen steigen seit Tagen rapide an, das französische Gesundheitsministerium vermeldete nun erstmals über 6000 positive Fälle an einem Tag.

Und das Virus macht auch keinen Umweg um die Teams. Am Donnerstag gab es beim belgischen Rennstall Lotto-Soudal zwei «nicht-negative» Fälle, was auch eine schöne Umschreibung ist. Die zwei Betreuer wurden wie ihre zwei Zimmerkollegen nach Hause geschickt. Es bleibt zu befürchten, dass es nicht die letzten Fälle sind.

Das Team um die beiden deutschen Lotto-Fahrer John Degenkolb und Roger Kluge hatte nichts zu befürchten. Ein Ausschluss stand nicht zur Debatte, auch weil kurzfristig das Reglement abgemildert wurde. Nur noch bei mindestens zwei positiven Corona-Tests von Fahrern einer Mannschaft in einem Zeitraum von sieben Tagen wird der gesamte Rennstall ausgeschlossen. Damit zählt nicht mehr das direkte Umfeld wie Physiotherapeuten, Busfahrer oder Team-Offizielle dazu. Der Veranstalter hat offenbar eingesehen, dass sonst womöglich nur noch eine kleine Gruppe von Fahrern hätte das Rennen zu Ende fahren können.

Ein Abbruch schwebt ohnehin «wie ein Damoklesschwert über uns», sagte Tony Martin im dpa-Interview und befürchtet, «dass jeder Tag der letzte sein kann». Dem Routinier, der zum zwölften Mal beim Grand Départ dabei ist, ist die Lage bewusst. «Die Situation verschlechtert sich von Tag zu Tag», gibt der Radprofi zu bedenken und kann nicht verstehen, dass Zuschauer erlaubt sind: «Lieber eine Tour ohne Zuschauer als gar keine Tour.» Und Buchmann fügte hinzu: «Wir können nur unser Bestes geben, das Gesundheitsprotokoll einhalten und hoffen, dass es durch die Tour keine neuen Infektionen gibt. Das andere haben wir nicht in der Hand.»

Zumindest für die ersten beiden Tage wurden die Maßnahmen verschärft. Statt der maximal 5000 Zuschauer im Start- und Zielbereich sollen nur noch einige Dutzend Personen erlaubt sein. Also ein Tour-Start «fast hinter verschlossenen Türen», wie es Bernard Gonzalez als Präfekt der Alpes-Maritimes-Region ankündigte. Auch der Zugang zu den Bergen wird stark limitiert. «Wenn ich den Zuschauern einen Rat geben kann: Schauen sie sich die Anstiege im Fernsehen an.»

So muss auch Tourchef Christian Prudhomme allmählich von seiner Maxime abrücken, die stets lautete: «Eine Tour hinter verschlossenen Türen macht keinen Sinn.» Ein Szenario, was Experten wie Pharmakologe Fritz Sörgel als «unverantwortlich» bezeichnet haben. Für die Radteams ist die Tour indes fast schon überlebenswichtig, werden doch 70 Prozent des Jahresetats dort generiert.

Sportlich steht aus deutscher Sicht Emanuel Buchmann im Blickpunkt. Für Teamchef Ralph Denk wäre eine vordere Platzierung des Kletterspezialisten nach dem Sturz bei der Dauphiné-Rundfahrt wie «ein Sechser im Lotto», doch der Vorjahresvierte will sich von seinen Zielen noch nicht verabschieden. Das Podium habe er noch im Hinterkopf, so der Ravensburger: «Der erste Plan ist, auf Gesamtwertung zu fahren, und dann schauen wir, wie es funktioniert.»

Glaubt man den Experten, wird der Toursieg aber unter Vorjahressieger Egan Bernal aus Kolumbien und Vuelta-Champion Primoz Roglic ausgemacht. Der Titelverteidiger hat bereits die Favoritenrolle dem Ex-Skispringer aus Slowenien zugeschoben. «Er war bei den letzten Rennen der Stärkste. Er ist geflogen», sagt Bernal und verweist auch auf dessen starkes Jumbo-Visma-Team, dem auch Tony Martin angehört. «Wir sind uns der Sache nicht zu sicher. Aber man kann auch nicht tiefstapeln und sagen: 'Ineos ist der Topfavorit.' Die Rolle haben wir uns in den letzten Wochen ganz klar erfahren», sagt Martin.

Die Franzosen hoffen indes auf Thibaut Pinot. Für ihn wäre im vergangenen Jahr der Tour-Sieg schon drin gewesen, hätte ihn nicht ein Muskelfaserriss im Oberschenkel zur Aufgabe gezwungen. Klappt es diesmal mit dem ersten französischen Sieg seit Bernard Hinault vor 35 Jahren?

Die Strecke kommt den Bergspezialisten entgegen. Schon am zweiten Tag geht es ins Hochgebirge. Danach warten noch vier Bergankünfte auf die Fahrer. Die Entscheidung dürfte am vorletzten Tag beim Bergzeitfahren in La Planche des Belles Filles fallen - wenn es die Tour bis dahin schafft.

© dpa-infocom, dpa:200828-99-343723/4

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