Saint-Jean-de-Maurienne (dpa) - Stoisch, ohne ein Zeichen von Aufgeregtheit steuert Bradley Wiggins sein großes Ziel an: Den ersten Toursieg eines Briten. Die Prognosen sind nach den Alpenetappen günstig. Sein großer Halt ist das überragende Sky-Team.
Mister Cool sammelt E-Gitarren und wäre wegen seiner zügellosen Leidenschaft für Bier und Wodka fast zum Alkoholiker geworden. Bradley Wiggins gewährt in Frankreich erstaunliche Einblicke in sein Privatleben, besticht an der Spitze der Tour de France aber noch mehr durch Souveränität und Abgeklärtheit. Der Sohn des australischen Bahnfahrers Garry Wiggins, der 2008 unter mysteriösen Umständen ums Leben kam, ist auf bestem Weg, als erster Brite in 109 Jahren Tour-Historie das Gelbe Trikot auf die Insel zu holen.
Für diesen «Kindheitstraum» hat sich der dünne Mann aus Kilburn bei London quasi seit Jahren kasteit. Er unterwarf sich einer beispiellosen Trainingsfron und zügelte Essen und Trinken drastisch, um sein «Idealgewicht» von rund 69 Kilo bei 1,90 Meter Körpergröße zu erreichen. «Ich schätze, er hat acht bis neun Kilo im Vergleich zu seiner Zeit auf der Bahn abgenommen», vermutete Rolf Aldag, unter dessen Regie der dreimalige Olympiasieger und sechsmalige Weltmeister auf der Bahn 2008 beim US-Team Highroad fuhr.
Zum Vergleich: Der spindeldürre Skispringer Sven Hannawald wog in Wettkampfzeiten zwar rund fünf Kilo weniger, war aber auch sechs Zentimeter kleiner als der Sky-Kapitän. Auf jeden Fall folgen Wiggins und sein treuester Helfer und jetzt auf dem Papier ärgster Verfolger Christopher Froome der Devise: Je leichter desto besser. Diese Maxime gilt besonders in den Bergen. «Aber man muss aufpassen, dass die Balance nicht kippt und die Kraft dann nicht mehr ausreicht», meinte Aldag, der schon beobachtet haben will, dass Wiggins an Explosivität verloren hat.
Nach seiner körperlichen Metamorphose vom Bahnspezialisten mit ansehnlichen Muskeln zum scheinbar unterernährten Tour-Dominator begleitet Wiggins in der berüchtigten Branche natürlich auch der Doping-Verdacht. Bei Nachfragen reagierte der 32-Jährige bei dieser Tour unterschiedlich. Beim ersten Mal pöbelte er und verließ wütend die Pressekonferenz. Tage später nahm er sich zusammen und etwas Zeit, um zu referieren: «Es gibt nur einen Grund, warum ich stehe, wo ich stehe: harte Arbeit. Ich bin es leid, mich zu rechtfertigen. Ich bin kein kleiner Scheißfahrer, der sonst woher kommt. Ich bin Weltmeister und Olympiasieger, war bei der Tour schon Vierter und bei der Vuelta Dritter.»
Ganz so cool wie der inzwischen von der amerikanischen Anti-Doping-Agentur USADA in die Enge getriebene Lance Armstrong geht er noch nicht mit dem Reizthema um. Der Seriensieger hatte zu seinen früheren Tourzeiten provokante Fragen stets mit rhetorischer Raffinesse pariert. Aber Wiggins, der sich wie alle im Team vom ehemaligen australischen Schwimmtrainer Kim Kerrison (Spitzname: «Sklaventreiber») trimmen lässt, macht sich. Armstrong-like ist seine Fahrweise und die seines überragenden Sky-Teams. Sogar die kleinen Gesten am Rande stimmen überein.
Wiggins' im Moment gefährlichster Widersacher Vincenzo Nibali hatte sich despektierlich über den Briten und dessen Fähigkeit in den Bergen geäußert. Darauf handelte sich der Liquigas-Profi im Ziel zunächst einen strengen, sehr intensiven Blick ein. Einen Tag später, nachdem Nibali mit Attacken in den Alpen zweimal an dem bleichen Mann in Gelb gescheitert war, legte Wiggins nach geschlagener Schlacht in La Toussuire gönnerhaft, aber auch anerkennend den Arm um den Sizilianer. Der erwiderte die Annäherung und teilte mit: «Bradley ist ein großer Fahrer.»