Florenz (dpa) - Rui Costa war in Florenz der große Nutznießer des Pokerspiels der Favoriten. Der 26 Jahre alte Radprofi holte überraschend als erster Portugiese in 86 Jahren WM-Geschichte den Titel auf der Straße und stürzte die italienischen Gastgeber in die Verzweiflung.
Ihr Topfavorit Vincenzo Nibali, der auf den letzten beiden Steigungen des finalen Rundkurses alles versuchte, wurde nur Vierter. Costa jubelte nach dem Rennen: «Ein Traum ist wahrgeworden. Ich habe in der Lotterie den Hauptgewinn gezogen».
Der Spanier Joaquim Rodriguez fuhr nach 272,3 Kilometern als Erster auf die Zielgerade, wurde aber von Costa noch überspurtet. Dem Katusha-Fahrer, der zuvor vermutlich seine letzten Kraftreserven im Kampf gegen die Topfahrer am Berg gelassen hatte, blieb nur die Silbermedaille. Nibali hatte im Kampf um Bronze gegen Alejandro Valverde 17 Sekunden hinter dem Spitzen-Duo keine Chance. Vor Wut hämmerte er mit der Faust auf seinen Lenker.
Der Sieger war an diesem sehr arbeitsintensiven Tag - größtenteils unter strömendem Regen - 7:25:43 Stunden unterwegs. Sein Stern war bei der vergangenen Tour de France aufgegangen, als Costa zwei Etappen in Le Grand Bornand und Gap in den Alpen gewonnen hatte. «Das hätte heute das Rennen meines Lebens werden können, aber es gehörte Rui», sagte der traurige Valverde.
Die deutschen Profis, nur als Sextett am Start, fuhren ein aufmerksames Rennen. Nach dem frühen Ausfall von Dominik Nerz, fuhren John Degenkolb (42.), Simon Geschke und Marcus Burghardt (39.) bis zum Finale in der letzten von zehn Runden immer in der Spitze. Dann mussten sie aber passen. Bester von ihnen war der Berliner Geschke auf Rang 14.
«Die Kolumbianer haben an den letzten Steigungen alles auseinandergefahren - da kamen wir nicht mehr mit», sagte Burghardt nach dem beinharten Rennen. «Ich hatte viel Glück, dass ich nicht gestürzt bin. Leider hat es für mich am Ende nicht mehr gereicht - da ging nichts mehr», erklärte Geschke.
Die katastrophalen Wetterverhältnisse mit Donner, Blitz und Regen machten diese WM noch schwerer und fast zum Vabanque-Spiel. Vergleichbar schwere Titelkämpfe gab es seit Jahrzehnten nicht. Schon in der zweiten von zehn Schlussrunden über zwei happige Steigungen mit bis zu 18 Steigungsprozenten gab es folgenschwere Stürze. Denen fielen auch Dominik Nerz aus Wangen und Ex-Toursieger Cadel Evans zum Opfer. Beide stiegen aus.
Nerz, der nominell Kapitän im deutschen Team war, kam dreimal zu Fall und erlitt eine schwere Hüftprellung mit Beeinträchtigung des Ischiasnervs. Im ZDF kritisierte er hinterher die Veranstalter: «Das war bei diesen Bedingungen wie ein Lotteriespiel. Nach jeder Kurve lagen welche auf der Straße. Dieser Kurs war nicht zumutbar».
Die Träume vom Titel hatten für den Topfavoriten Nibali in der drittletzten Runde einen herben Dämpfer erhalten. Der 28 Jahre alte Sizilianer, der im Mai den Giro d'Italia bei ähnlichen Witterungsbedingungen dominiert hatte, stürzte bei der Abfahrt der steilen Via Salviati und verlor den Kontakt zur Spitzengruppe. Ehe er sich wieder sortiert hatte, war die Konkurrenz eine Minute weg - aber er schaffte noch einmal den Anschluss. Am Schluss fehlte ihm bei den letzten Steigungen aber wohl die Kraft, um sich allein abzusetzen und so als nicht besonders spurtstarker Fahrer eine realistische Siegchance zu haben.
Die WM-Bilanz aus deutscher Sicht fiel zufriedenstellend aus, obwohl die Frauen zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren ohne Medaille geblieben waren. Tony Martin mit seinem dritten Zeitfahr-Gold in Folge war bei den 80. Titelkämpfen der große Trumpf des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR).
«Tony ist eine überragende WM gefahren und in den Nachwuchsklassen waren wir nicht weit weg vom Podium - wir sind zufrieden», erklärte BDR-Sportdirektor Patrick Moster. Nach dem Rücktritt von Judith Arndt befände sich der Verband «im Frauenbereich im Umbruch».