Münster (rad-net) - Im zweiten Teil des großen «rad-net»-Interviews mit Tony Martin spricht der Zeitfahrweltmeister über den Stellenwert des deutschen Radsports im internationalen Vergleich, den kraftraubenden Anti-Doping-Kampf, die Rolle des Fernsehens und seine angebliche Umschulung zum Rundfahrer.
Tony Martin, wenn Sie den deutschen Radsport 2013 betrachten: Wo steht Deutschland
leistungsmäßig im internationalen Vergleich?
Martin: Wir sind in jeder Disziplin - bis auf Gesamtwertung - ganz vorne
vertreten. Gerade im Sprint mit Ausnahmeathleten wie Marcel Kittel und André
Greipel, nicht zu vergessen Gerald Ciolek, der Mailand-San Remo gewonnen hat.
Ich denke, dass wir in Zukunft auch von einem John Degenkolb bei den Klassikern
noch sehr viel sehen werden, von mir sicherlich im Zeitfahren. Die großen
Rundfahrer fehlen, aber wird sind dennoch breit aufgestellt und zudem sehr
erfolgreich. Dass das Desinteresse gerade der Fernsehmedien noch da ist, liegt
mit Sicherheit nicht an fehlenden Erfolgen. Da haben andere Nationen wesentlich
weniger Gründe, den Fernseher einzuschalten.
Wie hat sich das Klima im Radsport seit dem Geständnis von Lance Armstrong
entwickelt?
Martin: Das Geständnis von Armstrong war ja nur die Spitze des Eisberges. Da
sind ja vorher so viele Geständnisse und Enthüllungen gewesen, dass es für mich
persönlich und auch für die Fans schon gar keine Überraschung mehr war. Der
Radsport wurde zum Glück schon vorher verändert, gerade was den
Anti-Doping-Kampf angeht. Ich denke, wir sind seitdem auf einem sehr guten Weg,
den Radsport transparent zu gestalten und auch der Fernsehöffentlichkeit zu
zeigen, dass auch mit sauberem Radsport sehr viele schöne Erfolge eingefahren
werden können. So Geschichten wie von Armstrong sind zweifellos immer wieder ein
herber Rückschlag, aber wenn man sich den Gesamtverlauf seit 2007, 2008 anguckt,
dann sind wir auf einem sehr guten Weg, gerade auch den deutschen Radsport
wieder salonfähig zu machen.
Wie anstrengend ist das manchmal für Sie, diesen Anti-Doping-Kampf
offensiv zu betreiben und auch als engagierter Vorkämpfer aufzutreten?
Martin: Das ist schon sehr nervenraubend und erfordert sehr viel Arbeit neben
den Wettkämpfen und dem Training. Zuletzt im Sportstudio ging es zum Beispiel
auch viel um Anti-Doping. Dann bin ich mit John Degenkolb und Marcel Kittel
relativ viel unterwegs bei Medienanstalten, wo wir versuchen, positive Gespräche
zu führen. Das ist schon viel Extrastress neben dem eigentlichen Sport. Das
nehmen wir aber in Kauf, weil uns der Radsport das einfach wert ist und weil wir
denken, es lohn sich für den Sport zu kämpfen. Wenn wir es schaffen, selbst zum
Ende unserer Karriere hin, an diesen Punkt zu gelangen, an dem der Radsport
wieder ganz oben ist, dann können wir stolz zurückblicken, dass wir einen großen
Teil dazu beigetragen haben.
Was erwarten Sie vom neuen UCI-Präsidenten, dem Briten Brian Cookson? Kann
er ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, damit es weiter aufwärts geht?
Martin: Das muss er. Er hat alle positiven Voraussetzungen. Ich denke, Pat
McQuaid hat ein paar schöne Steilvorlagen gegeben, wie man es besser machen
kann. Es kann nur besser werden, gerade auch der Umgang mit der Dopingpolitik
und dem Aufräumen von alten dubiosen Geschichten, wo dann relativ viel
geheimgehalten und gemauschelt wurde. Brian Cookson hat viele Bereiche, in denen
er es besser machen kann. Wobei ich glaube, dass es auch gar nicht so viel
schwerer ist, es besser zu machen.
Zwei weitere deutsche Talente haben bei ProTour-Teams unterschrieben: Rick
Zabel bei BMC und Jasha Sütterlin bei Movistar. Spricht das für die gute
Nachwuchsarbeit hierzulande?
Martin: Definitiv. Gerade das Land Thüringen, speziell Erfurt, hat immer
wieder gezeigt, dass es in diesem Bereich Top-Sportler hervorbringt, die dann
nicht nur den Sprung in den Profibereich schaffen, sondern auch erfolgreich
sind. Rick Zabel sollte man umso mehr Respekt zollen, dass er es jetzt geschafft
hat. Ich denke, er hat es alles andere als leicht mit dem Vater - da ist
sicherlich eine gehörige Portion Druck dabei, nicht nur vom Vater, sondern von
der Öffentlichkeit. Dass er das geschafft hat, freut mich persönlich für ihn.
Was steht für Sie in diesem Jahr nach dem Münsterland-Giro noch an?
Martin: Mitte Oktober die Tour of Bejing sowie am 20.Oktober der
Zeitfahrwettbewerb Chrono des Nations in Frankreich. Auf die Peking-Tour freue
ich mich nicht nur, weil ich Titelverteidiger bin, sondern weil es immer ein
schönes Saisonfinale ist. Der Druck ist nicht mehr ganz so groß, aber manchmal
fährt man ohne großen Druck umso schneller. Nichtsdestotrotz freue ich mich auf
die Saisonpause, die für mich durch die Kahnbein-OP durchbrochen wird. Das ist
eben ein notwendiges Übel dieses Jahr.
Beeinträchtigt Sie die für den 28. Oktober geplante Operation in der
Wintervorbereitung?
Martin: Nein. Es ist eine Ruhezeit von vier bis sechs Wochen angedacht, das
deckt sich einigermaßen mit der Saisonpause. Das sollte kein Problem sein.
Ihre viel diskutierte Umschulung zum Rundfahrer. Soll es die wirklich
geben und ist das noch Thema?
Martin: Nein, erstmal nicht. Vielleicht habe ich mich auch falsch
ausgedrückt, ich weiß es nicht. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass
ich gesagt habe, nächstes Jahr will ich eine Drei-Wochen-Rundfahrt gewinnen. Ich
habe mich nur geäußert, dass es sicherlich irgendwann ein Ziel wäre und dazu
habe ich noch gesagt, was nötig wäre. Aber aus dem wäre wird in den Medien dann
gerne mal ein ist und wird. Wie ich schon gesagt habe: Ich würde mich zunächst
gerne wieder auf die kleineren Rundfahrten einschießen und über diese kleineren
Rundfahrten kann man gucken, inwiefern ich auch in den größeren Rundfahrten
Potenzial habe. Aber ich sollte nicht den dritten vor dem ersten Schritt machen.
Ansonsten sind Sie im Zeitfahren ja nicht so schlecht aufgehoben …
Martin: Ich denke auch. Die Erfolge sind ja da. Wie heißt es so schön: Never
change a winning team.
Tony Martin im ersten Teil des «rad-net»-Interviews: «Das ist schon eine echte Ansage»