Berlin (dpa) - Die einheimische Rad-Elite fährt in ausländischen Teams nicht immer auf eigene Rechnung, der Nachwuchs braucht noch ein wenig Lehrzeit: Ein Nachfolger von Steffen Wesemann als Sieger der Flandern-Rundfahrt ist am Sonntag wohl - noch - nicht in Sicht.
«John Degenkolb hat das Zeug dazu, aber er ist vielleicht noch einen Tick zu jung und unerfahren», beurteilte Wesemann, 2004 letzter deutscher Sieger der «Ronde» durch Flandern, die Chancen des Newcomers aus Erfurt.
«Ich denke, binnen drei Jahren kann Degenkolb bei einem Klassiker auf dem Podium stehen. Und wer dort steht, kann auch gewinnen», sagte Erik Zabel der Deutschen Presse-Agentur. Mit insgesamt acht Klassiker-Erfolgen zwischen 1997 und 2005 kann der jetzige Teamchef der russischen Katusha-Formation hierzulande mit den meisten Meriten bei den wichtigsten Eintagesrennen aufwarten. Der Wahl-Schweizer Wesemann arbeitet als Manager für Radprofis und verfolgt den 253 Kilometer langen Klassiker an alter Wirkungsstätte vor Ort. Bei der 96. Austragung des verrückten Radsport-Feiertages wird halb Belgien auf den Beinen sein.
Zabel nannte mögliche Gründe, warum der letzte deutsche Klassiker-Erfolg durch Marcus Burghardt bei Gent-Wevelgem schon fünf Jahre zurückliegt: «Durch die kritische Berichterstattung in Deutschland kam es auch dazu, dass mögliche deutsche Klassikerfahrer in ausländischen Teams für die dortigen Kapitäne arbeiten müssen, anstatt in einem nichtvorhandenen deutschen Worldtour-Team auf Sieg fahren zu dürfen. Anstelle von produzierbarem und reproduzierbarem Erfolg müssen die deutschen Fahrer nun auf viel renntaktisches Glück hoffen».
Burghardt ist mit seinem BMC-Team auch am Sonntag am Start und schraubt eigene Erwartungen zurück: «Ich bin in erster Linie für Philippe Gilbert und Greg van Avermaet da.» Aber auch mit der Hilfe des langen Sachsen werden es die beiden Belgier schwer werden, im Heimspiel vor Millionenpublikum am Straßenrand entscheidend zu punkten. Der deutsche Zweitdivisionär NetApp ist als Debütant dabei.
Auf geänderter Streckenführung - ohne die legendäre Mauer von Geraardsbergen, dafür sind im Finale aber je dreimal Kwaremont und Paterberg zu erklimmen - sind alle Augen auf den zweifachen Sieger Tom Boonen gerichtet. Er feierte in diesem Jahr ein bemerkenswertes Comeback. Nach langer Durststrecke mit Tour-Ausschluss und Kokain-Affäre ist der Belgier sportlich wieder da und sammelte seit der San-Luis-Tour im Januar Siege wie am Fließband.
Sein Herausforderer Nummer eins dürfte Zeitfahr-Olympiasieger Fabian Cancellara sein. Bei Degenkolbs Galavorstellung mit dessen fünftem Rang in San Remo war er Gefangener seiner eigenen Stärke. In der Dreier-Spitzengruppe musste der Schweizer bedingungslos Tempo machen, um einen Mini-Vorsprung vor dem Feld zu halten. Im Finale «bedankte» sich der Australier Simon Gerrans, spurtete mühelos an Cancellara vorbei und verwies ihn auf Rang zwei. «Ich denke, dass Tom der große Favorit ist. Er und sein Team haben den Druck auf ihren Schultern», sagte Cancellara nun in Richtung Boonen. Zabels Geheimtipp für Sonntag «beim jetzt wohl mit Abstand schwersten Rennen des Kalenders» lautet Stijn Devolder. Der Belgier gewann die «Ronde» 2008 und 2009.