Les Essarts (dpa) - Erst bohrende Fragen der Medien, dann schmerzende Pfiffe des Publikums und zu guter Letzt noch der Sturz auf der ersten Etappe: Schlechter hätte die 98. Tour de France für den Topfavoriten Alberto Contador nicht beginnen können.
Schon zum Auftakt verlor der Spanier auf seine Herausforderer, angeführt von Andy Schleck, mehr als eine Minute. Nach dem 23-Kilometer-Zeitfahren trennen Contador von Schleck 1:38 Minuten, von Ex-Weltmeister Cadel Evans aus Australien sogar bereits 1:41.
Der Luxemburger gab seinem Rivalen nach dessen Fehlstart gleich noch einen mit. «Auch schon vor dem Sturz schien Alberto nicht auf der Höhe des Geschehens zu sein», sagte Schleck am Abend nach der 1. Etappe im gemeinsamen Hotel «Aloé», in dem die extra mitgereisten Team-Köche von Saxo-Bank und Leopard-Trek um die Wette kochten.
Contadors Teamchef Bjarne Riis versuchte, das Drama herunterzuspielen. Seine Miene verriet aber alles andere als Gelassenheit. «Wir machen jetzt keine Fehleranalyse und haken das unter Pech ab», sagte der Däne, der 1996 im Telekom-Team die Tour gewonnen hatte. Contador war zusammen mit 45 Fahrern gestürzt, nachdem sein früherer Team-Kollege Maxim Iglinskiy eine Zuschauerin touchiert und einen Sturz im Domino-Effekt ausgelöst hatte.
Der Spanier analysierte sein Missgeschick schnörkellos: «Dieser Rückstand gegen die direkten Konkurrenten wird schwer aufzuholen sein». Die Dame, die den Unfall auslöste, trug - passend zum Anlass - ein Kleid in der Tour-Farbe und wurde vom Fachblatt «L'Équipe» in einem Artikel als «Dame in Gelb» bedacht.
Im Vorjahr trennten den dreifachen Toursieger von Schleck nur 39 Sekunden. Genau diese Zeitspanne hatte sich Contador in den Pyrenäen herausgefahren, als er mit einer etwas fragwürdigen Attacke auf eine Schleck-Panne reagiert hatte. Davor hatte er auf Schleck 1:13 Minuten aufgeholt. 2009 waren 41 Sekunden hinter Lance Armstrong kein Problem. Aber in diesem Jahr wirkt der frisch gekürte Sieger des Giro d'Italia, der sich ab dem 1. August wegen Dopings vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS verantworten muss, angeschlagen. Die Perspektiven sind düster: Sein bevorzugtes Terrain - die Berge - wird erst in zweiten Tourhälfte erreicht, und auf den kommenden Etappen könnte Contador weiterer Zeitverlust drohen, am Sonntag hagelte es die nächsten 24 Sekunden auf Schleck.
Nach dem Massensturz, bei dem sich der Spanier 8,8 Kilometer vor dem Ziel in Les Herbiers nicht verletzte, nur eben entscheidend aufgehalten wurde, hatte die Tour-Regie noch einen Schluss-Akkord parat: Contador passierte die Ziellinie in Herbiers vor Andy Schleck, verlor aber dennoch 1:14. Der Luxemburger war 2,3 Kilometer vor dem Ziel in einen zweiten Sturz verwickelt gewesen, konnte aber danach gemächlich austrudeln, weil die «Drei-Kilometer-Regel» angewendet wurde. Sie besagt, dass Gestürzte in diesem Abschnitt mit der Zeit der Hauptgruppe gewertet werden. Das waren am Samstag 65 Fahrer, inklusive aller Favoriten - außer Contador, der so weit hinten im Feld fuhr, wie keiner seiner direkten Konkurrenten. Sein «ich bleibe optimistisch» nach dem Zeitfahren hörte sich bereits etwas trotzig an.