Berlin (dpa) - Jens Voigt ist ein hochbeschäftigter Berufspendler, obwohl er seinen Job vor drei Wochen in Colorado eigentlich an den Nagel gehängt hatte und «einen langen Urlaub» antreten wollte.
Von Dienstag bis Freitag trainiert er auf der Bahn in Grenchen, am Wochenende versucht er in Berlin, seine sechs Kinder im Zaum zu halten. Er kann aber offensichtlich nicht vom Sport lassen und macht sich mit seinem Stundenweltrekord-Versuch am 18. September um 19 Uhr auf der Schweizer Bahn bei Biel noch mindestens auf eine Ehrenrunde. Am Vortag wird der Wahl-Berliner aus Mecklenburg, der 18 Jahre als Radprofi auf dem Buckel hat, 43 Jahre alt.
«Wir hatten zuerst geplant, den Rekord in seiner Heimatstadt Berlin anzugreifen. Aber das Velodrom stand nicht zur Verfügung. So sind wir auf Grenchen ausgewichen, wo es auch schon Tests mit Fabian Cancellara gab», erklärte Voigts Teamsprecher Tim Vanderjeugd zum Vorhaben, die neun Jahre alte Bestmarke des Tschechen Ondrej Sosenka (49,700 Kilometer) anzugreifen.
Der Rekordversuch sei «seriös» und eine neue Bestmarke liege «gemessen an den Fähigkeiten Voigts in Reichweite», entgegnete Vanderjeugd Kritikern, die in dem Unterfangen, das live von Eurosport übertragen wird, eher einen PR-Gag des nimmermüden Voigt und seines Trek-Teams sehen.
Voigts langjähriger Team-Kapitän Fabian Cancellara, der bei der WM in Ponferrada/Spanien am Monatsende zum ersten Mal Straßen-Weltmeister werden will, hat von seinen Weltrekord-Plänen vorerst Abstand genommen. Voigt sprang ein. «Jens ist nicht der Testpilot von Fabian. Aber er kann natürlich die Erfahrung von Jens nutzen, wenn er eines Tages den Rekord angreifen will», meinte Vanderjeugd zu möglichen Plänen des vierfachen Zeitfahr-Weltmeisters aus der Schweiz.
Ex-Profi Rolf Aldag, im belgischen Pharma Quickstep-Team Berater des dreifachen Zeitfahr-Weltmeisters Tony Martin, befürchtet nach einer erfolgreichen Rekordfahrt einen «Apfel-und-Birnen-Vergleich» zu der Bestzeit von Sosenka. Voigt kann auf einer zeitgemäßen Zeitfahrmaschine starten. Der Tscheche war 2005 notgedrungen mit dem Material aus Eddy-Merckx-Zeiten von 1972 unterwegs.
Dennoch wird es für den nicht mehr taufrischen Kandidaten aus Berlin-Grunewald schwer, der beim Berliner Sechstagrennen im Januar 2015 am liebsten als Weltrekordler Abschied Nummer drei feiern will. «Ich hoffe, er hat sich damit intensiv beschäftigt. Mit Sicherheit wäre er 2002 oder 2004 schneller gewesen. Aber mit vernünftigem Zeitfahr-Material kann er es schaffen», so Aldag. Für 25 Schweizer Franken Eintritt kann die One-Man-Show von Grenchen hautnah verfolgt werden.
Der Weltverband UCI hat seine Restriktionen in punkto Material inzwischen revidiert und die Rekordhatz damit wieder - vor allem für die Ausrüster - attraktiver gemacht. Auf den «Ausreißer-König» Voigt könnten bis spätestens 2016 die wohl eher berufenen Martin, Cancellara oder Olympiasieger Sir Bradley Wiggins folgen.
Kleine Pikanterie am Rande: Der Versuch, den seit 1876 ausgefahrenen Rekord (26,508 Kilometer) zu verbessern, findet ausgerechnet auf der Privat-Bahn des Trek-Kontrahenten BMC statt. Werbung, die auf die Konkurrenz hindeutet, werde abgeklebt, hieß es.