Berlin (dpa) - Ausgerechnet vor seinem Saison-Höhepunkt wurde John Degenkolb im heimischen Oberursel ausquartiert.
«Meine ganze Familie hat es letzte Woche mit dem Coronavirus erwischt. Ich bin deshalb ein bisschen als Vagabund unterwegs und kann nicht nach Hause», sagte der 33 Jahre alte Radprofi lachend der Deutschen Presse-Agentur. In der Vorbereitung auf sein erklärtes Lieblingsrennen Paris-Roubaix am Ostersonntag musste er gezwungener Maßen improvisieren.
Wegen der angespannten Lage zu Hause machte sich Degenkolb nach der Flandern-Rundfahrt nach dem ersten April-Wochenende kurzerhand auf zum Training in Richtung Mallorca - und von dort direkt zum niederländischen Amstel Gold Race, das er am Sonntag bei seiner erst zweiten Teilnahme nach 2011 als 47. beendete. «Diese Woche bin ich dann in Köln in der Nähe von meinem Teamkollegen Nikias Arndt, und wir bereiten uns gemeinsam auf Paris-Roubaix vor», erzählte Degenkolb. Von dort geht es dann nach Nordfrankreich.
«Sehr spezielle Bindung»
Zum 119. Mal findet der prestigeträchtige Frühjahrsklassiker statt - für Degenkolb der alljährliche Höhepunkt im Rennkalender. «Es ist definitiv mein Lieblingsrennen, zu dem ich eine sehr spezielle Bindung habe», sagte er über die «Königin der Klassiker». Zwei Deutsche stehen bislang in der Siegerliste des Radsport-Monuments: Bei der Premiere im Jahr 1896 gewann der Bayer Josef Fischer, 2015 triumphierte im altehrwürdigen Velodrom in Roubaix der gebürtige Thüringer Degenkolb. Drei Jahre später gewann der DSM-Profi, damals im Trikot des Teams Trek-Segafredo, direkt vor dem Radstadion die 9. Etappe der Tour de France. Danach wurde es ruhiger um Degenkolb.
Seit Anfang der Saison steht der Familienvater wieder bei der niederländischen DSM-Equipe unter Vertrag, für die er 2015 noch unter dem Namen Giant-Alpecin kurz vor Roubaix noch beim italienischen Eintagesrennen Mailand-Sanremo siegte. Von Erfolgen dieses Kalibers ist Degenkolb sieben Jahre später ein Stück entfernt. Sanremo verpasste er in diesem Jahr wegen einer Erkältung. Beim 257,2 Kilometer langen Ritt durch die nordfranzösische Kohleregion möchte er zumindest vorne mit dabei sein.
Topfavorit van der Poel
«Ich zähle mich zu den Fahrern, die in die Top 10 fahren können. Wenn mehr möglich ist, wäre das megageil. Ich bin aber auch realistisch genug und weiß, dass ganz vorne echt hart wird», betonte Degenkolb. Sein neues Team glaubt jedenfalls an die Stärke des Routiniers. «Er kommt von den flämischen Klassikern und ist in wirklich guter Form. Wir können einen supermotivierten John erwarten, wenn wir am Sonntag an den Start gehen», sagte DSM-Trainer Phil West.
«Der absolute Topfavorit» auf den Sieg ist für Degenkolb jedoch der Niederländer Mathieu van der Poel. «Da brauchen wir gar nicht zu drüber diskutieren», sagte er, ergänzte aber: «Es ist kein Rennen wie jedes andere und man sollte nicht überrascht sein, wenn jemand am Ende vorne ist, der noch nichts vorne gezeigt hat. Das war oft in den letzten Jahren der Fall.»
Dies könnte zum Beispiel auf Nils Politt zutreffen. Der 28-Jährige möchte beim Frühjahrsklassiker wieder vorne mitfahren, nachdem er zuletzt mit einer Bronchitis zu kämpfen hatte. «Ich bin guter Hoffnung, dass ich gut drauf sein werde», sagte er der «Rheinischen Post». Wegen der Präsidentschaftswahlen in Frankreich wurde das Rennen um eine Woche nach hinten verschoben. «Ich fühle mich von Rennen zu Rennen besser und mir kommt entgegen, dass Paris-Roubaix etwas später ist», sagte er.
Auf Politt sowie Degenkolb und seine Kollegen wartet eine Tortur durch den französischen Norden mit den 30 gefürchteten Kopfsteinpflaster-Abschnitten über insgesamt 55 Kilometer. Die Feldwege mit den sogenannten Pavés führen zu unzähligen Schlägen auf die Handgelenke. Er könne danach mehrere Tage nicht mal mehr eine Flasche öffnen, erzählte Degenkolb vor einigen Jahren. Zumindest wenn er nach dem Rennen wieder im Kreise seiner Lieben sein darf, könnte seine Frau Laura dies für ihn übernehmen.