Harrogate (dpa) - Tony Martin zog seine Deutschland-Kappe tief ins Gesicht, doch weder seine Enttäuschung noch die Sturzverletzungen ließen sich verdecken.
Der angeschlagene Rekordweltmeister war reif für den Urlaub, nachdem sich in der Hügellandschaft von Yorkshire der Traum von einer weiteren Medaille zerschlagen hatte. «Bis November sieht mich keiner mehr auf dem Rad. Ich gehe nicht an den Start, um Neunter zu werden, aber mit der Vorgeschichte muss ich damit leben. Am Ende bin ich zufrieden, dass es keine totale Nullnummer geworden ist», sagte Martin nach dem neunten Platz bei der Straßenrad-WM im Einzelzeitfahren über 54 Kilometer von Northallerton nach Harrogate.
Der von einem schweren Sturz bei der Vuelta beeinträchtigte Altmeister wurde 2:27 Minuten hinter dem alten und neuen Champion Rohan Dennis aus Australien gestoppt - für Martins Verhältnisse fast schon Welten. Silber und Bronze gingen an das belgische Wunderkind Remco Evenepoel und den Italiener Filippo Ganna.
«In der Vorbereitung habe ich mich miserabel gefühlt. Ich habe mich im Training gequält. Das war alles anders als perfekt. Der Worst Case wäre gewesen, wenn ich demoralisiert als Elfter vom Rad gestiegen wäre. Jetzt habe ich wenigstens den zweiten Startplatz für Olympia geholt», sagte der deutsche Radstar dem ZDF. «Unter normalen Voraussetzungen wäre eine Medaille möglich gewesen.»
Zwölf Tage nach seinem Horrorsturz bei der Vuelta war die Zeit zur Genesung für Martin zu kurz. Über Probleme im Brustkorb unter Belastung hatte er bereits geklagt, nachdem er im Mixed-Teamzeitfahren abgehängt worden war. Den Traum von einer Medaille oder dem fünften WM-Titel hatte er aber nicht aufgeben wollen.
Der Kölner Nils Politt kam als zweiter deutscher Starter mit mehr als vier Minuten Rückstand auf Platz 22. «Ich bin ziemlich zufrieden mit meiner Fahrt. Ich wüsste nicht, was ich besser hätte machen können», sagte Politt. Immerhin hat der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) durch die Top-Ten-Platzierung von Martin einen zweiten Startplatz für das olympische Einzelzeitfahren in Tokio gesichert. Für Martin allerdings nur ein schwacher Trost.
Martin, der letztmals beim WM-Titel in Doha das Podest erreicht hatte, lag schon nach der ersten Zwischenzeit fast eine halbe Minute hinter Dennis, nach 37,7 Kilometern waren es gar mehr als zwei Minuten. An den Bedingungen hat es nicht gelegen. Im Gegensatz zum Regen-Chaos vom Vortag war die Strecke weitgehend trocken, zwischenzeitlich kam sogar die Sonne zum Vorschein.
Überragend war indes der alte und neue Champion. Dabei war Dennis seit dem 18. Juli kein Rennen mehr gefahren, nachdem der Australier bei der Tour de France im Streit mit seinem Bahrein-Merida-Team während der Etappe einfach vom Rad gestiegen war. Seitdem haben die Anwälte in dem Fall das Sagen, über eine Auflösung des bis 2020 laufenden Vertrages konnten sich die beiden Seiten bislang nicht einigen. In Yorkshire durfte Dennis auch nicht mit einer Rennmaschine seines Teams starten. «Das war ein schweres Jahr. Seit der Tour wurde viel über mich geredet. Es ist schon speziell, so zurückzukommen», sagte er.
Eine starke Vorstellung lieferte auch Youngster Evenepoel ab. «Mit 19 so eine Leistung zu bringen, ist unglaublich. Wahrscheinlich haben wir da den neuen Eddy Merckx», lobte Martin. Im Sommer hatte Evenepoel bereits die stark besetzte Clasica San Sebastian gewonnen und war bei der Deutschland-Tour mit einer furiosen Attacke 100 Kilometer an der Spitze gefahren. Nicht wenige Experten trauen dem Youngster zu, dass er die Radsport-Szene schon bald dominieren wird.
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