Löwen (dpa) - Inmitten des belgischen Radsport-Wahnsinns will das deutsche Nationalteam seine nicht enden wollende WM-Flaute stoppen und erstmals seit Rudi Altig 1966 wieder einen Weltmeister im Profi-Radsport stellen.
Hunderttausende Fans an den Straßen und eine ausgelassene Stimmung wie in Vor-Pandemie-Zeiten: Teamkapitän Nils Politt ist auf einen Tag inmitten der Ekstase von Flandern eingestellt. «Ich freue mich schon auf das Spektakel. Was in Deutschland der Fußball ist, ist in Belgien der Radsport», sagte Politt. «Da ist Corona in Belgien mal für einen Tag vergessen.»
Belgien der klare Favorit
Einen Vorgeschmack auf den Sonntag (ab 10.20 Uhr/Eurosport) mit dem WM-Höhepunkt über 267,7 harte Kilometer von Antwerpen nach Löwen boten schon die vergangenen Tage: Tausende Hobbyradler rollten über die abgesperrten Straßen, bei den Juniorenrennen säumten schon in den Morgenstunden zahllose Fans die Strecke, und im Herzen Löwens geht verkehrsmäßig über mehrere Tage hinweg wenig bis nichts. «Wir sind im Herz des Radsports», sagte der Sportliche Leiter Jens Zemke voller Begeisterung.
Der klare Favorit, das sind die belgischen Lokalmatadoren um Alleskönner Wout van Aert. Der 27-Jährige hat in diesem Jahr bei der Tour de France eine Bergetappe, ein Einzelzeitfahren und den finalen Sprint in Paris gewonnen. Bei der WM in seiner Heimat würde er seine silberne Serie (jeweils WM-Zweiter beim Zeitfahren 2020 und 2021 sowie beim Straßenrennen 2020) gerne beenden. «Es wird eine Nation geben, die unbedingt den WM-Titel haben will. Das wird Belgien sein. Jeder der acht Fahrer ist Weltklasse», sagte Politt.
Der Kölner vom Team Bora-hansgrohe erwartet eine frühe Offensive der Gastgeber, die alles auf den Titel ausgelegt haben. Zwar gibt es in Titelverteidiger Julian Alaphilippe aus Frankreich, dem Niederländer Mathieu van der Poel und dem slowenischen Topduo Primoz Roglic und Tadej Pogacar harte Konkurrenz, doch werden dem belgischen Team beste Chancen auf das begehrte Regenbogentrikot zugerechnet. «Die Favoritenrolle ist ganz klar verteilt», sagte Zemke. Und seine Deutschen starten zunächst eher in Nebenrollen.
«Die WM hat ihre eigenen Gesetze»
«Wenn es glücklich läuft, sind wir durchaus in Medaillenreichweite. Wenn ein fünfter oder achter Platz rumkommt, ist man auch nicht unzufrieden», sagte Bora-hansgrohe-Teammanager Ralph Denk der Deutschen Presse-Agentur. Der antrittsstarke Politt gilt zunächst mal als Kapitän, hält sich aber mit forschen Ansagen vorab zurück. «Ich weiß, dass ich gut drauf bin. Ich bin aber einer, der das Rennen auf sich zukommen lässt. Ich gebe ungern vorher eine Prognose ab», sagte Politt.
Das Warten auf einen deutschen Straßenrad-WM-Sieger bei den Profis dauert nun 55 Jahre und damit über 20.000 Tage. Geht der Plan mit Kapitän Politt nicht auf, könnte auch Pascal Ackermann eine Option sein. Der Sprinter müsste aber die zahlreichen giftigen Anstiege überstehen und könnte erst dann im großen Finale von Löwen seine Endschnelligkeit unter Beweis stellen.
«Erstmal mache ich mir keinen großen Druck, das gebe ich diesmal an Nils ab. Ich bin gut drauf und motiviert. Die Strecke ist nicht so schlecht für mich», sagte Ackermann. Denk hält eine solche Option für durchaus denkbar. «Die WM hat ihre eigenen Gesetze. Wenn er noch dabei sein sollte, cool, dann ist er gut für eine Medaille.» Der zuletzt schwächelnde Klassikerspezialist Maximilian Schachmann und Routinier John Degenkolb (am vergangenen Wochenende Zweiter beim deutschen Radklassiker Eschborn-Frankfurt) dürften dagegen eher Helferrollen ausfüllen.