Sanremo (rad-net) - Ein ungewöhnliches Mailand-Sanremo mit einem nicht ganz ungewöhnlichen Ergebnis: Wout van Aert (Jumbo-Visma) hat nach Strade Bianche auch die «Classicissima» gewonnen. In einem packenden Finale setzte er sich knapp vor Vorjahressieger Julian Alaphilippe (Deceuninck-Quick Step) durch.
Temperaturen über 30 Grad, eine abgeänderte Strecke - mit 305 Kilometern die längste in der Geschichte des Rennens - und Teams mit nur sechs Fahrern: Das waren die Grunddaten von Mailand-Sanremo im Hochsommer 2020. Und die Hitze war auch wohl mit der größte Faktor, der den Rennfahrern zu schaffen machte. Und diese außergewöhnliche Situation sorgte auch für einen anderen Verlauf des Klassikers. Wurden Ausreißern im Frühjahr zehn Minuten und mehr Vorsprung gewährt, waren es in diesem Jahr maximal 6:30 Minuten, die Fabio Mazzucco, Alessandro Tonelli (beide Bardiani-CSF-Faizanè), Mattia Bais (Androni Giocattoli-Sidermec), Manuele Boaro (Astana), Héctor Carretero (Movistar), Damiano Cima (Gazprom-Rusvelo) und Marco Frapporti (Vini Zabù-KTM) herausholen konnten. Große Mannschaften waren vorne eher nicht vertreten. Es herrschte eine gewisse Unsicherheit im Feld, zudem bestand die Chance mit dem letzten längeren Berg, dem Colle di Nava, die Sprinter zu ärgern. Das sollte aber schließlich nicht gelingen.
Aber am Colle di Nava, rund 70 Kilometer vor dem Ziel, wurde das Finale eröffnet. Die Teams Bora-hansgrohe und Trek-Segafredo zeigten sich an der Spitze des Feldes und sorgten für eine Tempoverschärfung, um das Rennen schwer zu machen. Einige Fahrer mussten den Anstrengungen auch Tribut zollen, letztendlich fiel aber keiner der Favoriten zurück. Durch das erhöhte Tempo sank der Vorsprung der Ausreißer aber rapide und bereits 35 Kilometer vor dem Ziel waren sie gestellt.
Just in dem Moment ereilte Alaphilippe ein Reifendefekt. Der Franzose blieb aber trotz der misslichen Situation - das Tempo war in Richtung Cipressa durch Positionskämpfe immer noch sehr hoch - ruhig und arbeitete sich wieder nach vorne. Fünf Kilometer später war er wieder im Hauptfeld.
Am Fuße der Cipressa attackierte Loic Vliegen (Wanty-Group Gobert) und Jacopo Mosca (Trek-Segafredo) setzte nach. Am Gipfel war ihr Ausreißversuch allerdings wieder beendet. Das Team Bora-hansgrohe hatte mit Daniel Oss an der Spitze die Nachführarbeit organisiert und dem weiter hohen Tempo fielen Caleb Ewan (Lotto-Soudal) und Fernando Gaviria (UAE-Team Emirates) zum Opfer und mussten abreißen lassen. Auf der Abfahrt fuhr Oss - eher durch Zufall - dem Peloton davon. Das sorgte für etwas Verwirrung im Feld, sodass der Italiener, der als treuer Helfer des dreifachen Weltmeisters Peter Sagan bekannt ist, bis der Poggio erreicht wurde, alleine an der Spitze des Rennens lag.
In den Poggio hinein zeigte sich nun auch Deceuninck-Quick Step wieder vorne, da ihr Kapitän Alaphilippe wieder den Weg nach vorne gefunden hatte. Hier versuchte zunächst Trek-Segafredo mit einem Angriff von Gianluca Brambilla wieder das Rennen schwer zu machen, um Chancen für Vincenzo Nibali zu wahren. Aime de Gendt (Wanty-Group Gobert) folgte dem Italiener und attackierte schließlich sogar seinerseits.
Als das Feld 6,5 Kilometer vor dem Ziel - immer noch am Poggio - wieder näher an den Belgier herankam, fiel die Vorentscheidung. Alaphilippe trat an und Van Aert, der zwei, drei Positionen hinter dem Franzosen fuhr, sprintete zu ihm hin. «Bleib dran, bleib dran, bleib dran! Das war das einzige, was ich in dem Moment gedacht habe», sagte Van Aert nach dem Rennen. Allerdings konnte der spätere Sieger berghoch nicht ganz das Tempo von Alaphilippe mitgehen, weswegen er seinen Rhythmus fuhr. «Ich musste von hinten reagieren und ein kleines Loch zu fahren. Danach musste ich erst einmal passen, bin aber weiter gefahren, da die Lücke zum Rest des Feldes da war. Ich wurde dafür belohnt, da ich auf der Abfahrt wieder herankam», beschrieb Van Aert die Situation. Bei noch 4,5 zu fahrenden Kilometern konnte er wieder zu Julian Alaphilippe aufschließen.
Auf der Ebene angekommen, führte Alaphilippe nicht mehr mit. Van Aert ergriff die Initiative und machte das Tempo. «Julian hat im Finale sehr gut gespielt. Er ließ mich an der Spitze fahren», so Van Aert. Schließlich wurde der 25-Jährige dafür belohnt. Die Verfolger kamen immer näher und Julian Alaphilippe eröffnete den Sprint. Wout van Aert konnte aber kontern und Schulter an Schulter rang er Alaphilippe im Spurt nieder. «Die Verfolger waren fast wieder dran. Es war schwierig, das richtige Tempo zu wählen und schließlich auch noch den Sprint zu gewinnen.» Mit wenigen Zentimetern Vorsprung feierte der Belgier seinen ersten Sieg bei einem der fünf Radsportmonumente.
«Ich habe gerade zwei große Rennen hintereinander gewonnen. Ich weiß nicht was ich sagen soll. Das ist eine dumme Antwort, weil das jeder sagt, wenn er ein Monument gewonnen hat. Aber es ist so. So in den zweiten Teil der Saison zu starten, ist wirklich fantastisch», sagte Wout Van Aert im Siegerinterview. «Ein solches Rennen mit meiner Familie in der Nähe zu gewinnen, ist das Beste, was es gibt. Das macht diesen Sieg noch schöner. Jeder weiß, dass ich meine Familie gerne um mich habe und nach einem solchen Sieg auch emotional bin. Der Sieg der letzten Woche hat Druck abgebaut. Ich konnte freier fahren. Zum Glück hatte ich auch die Beine von letzter Woche.»