Rosignano (dpa) - Die Erleichterung steht Linus Gerdemann ins Gesicht geschrieben. In der noch jungen Saison hat der 27-jährige Münsteraner nach dem Sieg bei der Mallorca Challenge bereits seinen zweiten Coup gelandet und ist auf dem besten Weg, sein schwaches Vorjahr vergessen zu machen.
Den Auftakterfolg bei der Fernfahrt Tirreno Adriatico errang der Rundfahrer-Spezialist auf für ihn ungewöhnliche Weise. Er setzte sich im Spurt einer vierköpfigen Gruppe gegen die als antrittsschneller bekannten Matti Breschel und Luca Paolini durch: «Ich habe mir selbst keine großen Chancen ausgerechnet. Aber dann haben die anderen den Spurt zu früh eröffnet und plötzlich war der Weg frei für mich», sagte er in Rosignano der Deutschen Presse-Agentur dpa.
Das aktuelle Kunststück beim Tirreno sorgt für eine besondere Befriedigung beim Milram-Kapitän. Die einzig noch verbliebene deutsche ProTour-Mannschaft, deren Sponsor zum Saisonende aussteigt, war überraschenderweise weder zur parallel laufenden Fernfahrt Paris-Nizza noch zum Traditionsrennen Strade Bianche eingeladen worden. Besonders der Verzicht auf das italienische Rennen wurmte Gerdemann. «Wir haben dort im letzten Jahr das Rennen dominiert und drei Mann unter den besten zehn gehabt. Ich kann nicht verstehen, dass man uns jetzt nicht berücksichtigt», klagte er. Umso schöner empfindet er daher diesen Sieg beim sportlich höherwertigen Tirreno.
Gerdemann setzt dem Trend, in Team Milram nur noch ein Auslaufmodell zu sehen, Widerstand entgegen. «Wir wollen zeigen, dass es sich lohnt, in uns zu investieren. Wir kämpfen dafür, dass es auch im nächsten Jahr noch ein deutsches ProTour-Team gibt», sagte er. Dass die neue Milram-Power in erster Linie der Existenzangst geschuldet ist, verneint er. «Wir waren immer motiviert», stellt er fest. Ein Unterschied zum letzten Jahr ist aber, dass er nach eigener Einschätzung jetzt um ein bis zwei Prozent stärker ist. Die Mannschaftskollegen sehen nun, dass ihr Kapitän wieder ein potenzieller Siegfahrer ist.
Ein Statement, dass er jetzt den Tirreno gewinnen will, ist aus ihm dennoch nicht herauszulocken. Das Höchste, das er sagt, ist: «Mir liegt diese Rundfahrt». Vor zwei Jahren hatte er sie beinahe schon einmal gewonnen. Im abschließenden Zeitfahren lag er auf Siegkurs. 1 800 Meter vor dem Ziel stürzte er jedoch und zog sich einen komplizierten Beinbruch zu. Er verlor eine halbe Saison und war auch im Folgejahr noch nicht wieder hergestellt.
Bei der Doping-Kontrolle hatte es Gerdemann nicht so eilig wie vorher im Rennen. Er durfte erst zur Pressekonferenz. Danach wurde er von einem Chaperon zum zweiten Mal aufs Örtchen begleitet. Auf dem Weg dorthin erzählt Gerdemann noch einmal seine Sicht auf die ein wenig merkwürdige Affäre um seine angeblich auffälligen Blutwerte, worüber im Vorjahr der WDR berichtet hatte. «Ich habe mich immer um Einsicht bemüht. Ich habe gemailt und nachgefragt. Doch niemand vom WDR wollte sie mir geben. Für mich hat sich das als Sensationsjournalismus herausgestellt», sagte er.
Beim italienischen Traditionsrennen Tirreno-Adriatico tritt Gerdemann als Exponent eines sauberen Radsports auf. «Man kann diesen Sport nicht von einem Tag auf den anderen verändern. Aber die meisten haben begriffen, wo das Problem liegt. Wer intelligent ist, weiß, dass betrügen nicht zum Erfolg führt», sagt Gerdemann und strafft merklich seinen Oberkörper mit Führungstrikot des Tirreno.