Chartres (dpa) - Nach Bradley Wiggins' famosem Zeitfahr-Sieg spielten sich Szenen ab wie anno dazumal bei den Beatles. Hunderte Journalisten und Fans drängten sich in Chartres vor dem Teambus von Sky, wo Tour-Kronprinz Christopher Froome auf der Rolle bereits seine Beine lockerte.
Im großzügigen Wohnmobil bereitete sich Wiggins bereits auf die Siegerehrung für das Zeitfahren der 19. Etappe vor. Über 53,5 Kilometer war der schlaksige Brite eine Klasse für sich und untermauerte eindrucksvoll, am Sonntag auf den Pariser Champs Élysées verdient zum Gesamtsieger der 99. Tour de France gekürt zu werden. «Ich bin voller Emotionen, das ist ein unbeschreibliches Gefühl», sagte Wiggins nach seinem zweiten Tour-Etappensieg 2012.
«Auf den letzten Kilometern ging mir so viel durch den Kopf: Die Arbeit der vergangenen Jahre, die Entbehrungen, meine Familie, mein Tour-Ausstieg 2011 nach dem Schlüsselbeinbruch und meine bisherigen Erfolge in diesem Jahr», meinte Wiggins, der schon auf der Ziellinie mit der Siegerfaust gejubelt hatte. Von Polizisten abgeschirmt kämpfte sich der 32-Jährige anschließend den Weg zum Teambus frei, wo sich Trainer und Betreuer schon in den Armen lagen. «Der Lärm im Ziel war einfach unbeschreiblich», sagte er. Froome als Etappen- und Gesamtzweiter rundete die perfekte Tour für Sky ab.
Sollte Wiggins die letzten 120 Kilometer nach Paris sturzfrei überstehen, ist der Premierenerfolg eines Engländers in 109 Jahren Tour de France perfekt. Letzte Zweifel räumte der dreimalige Bahn-Olympiasieger im Kampf gegen die Uhr aus, den er deutlich mit 1:16 Minuten Vorsprung vor Froome gewann. Dritter wurde der Spanier Luis Leon Sanchez mit 1:50 Minuten Rückstand. In der Gesamtwertung führt Wiggins jetzt mit 3:21 Minuten vor Froome und 6:19 Minuten vor dem Italiener Vincenzo Nibali vom Team Liquigas.
Die am Sonntag auf den Champs Elysées endende letzte Etappe ist nur noch für die Sprinter interessant. Dabei träumt André Greipel auf dem Prachtboulevard von seinem vierten Etappensieg 2012. Der größte Rivale des gebürtigen Rostockers dürfte Weltmeister Mark Cavendish sein. Dasselbe Duell wird nur sechs Tage später beim olympischen Straßenrennen in London erwartet.
Wiggins' Tagessieg in Chartres war auch eine kleine Genugtuung für die in den Pyrenäen eingesteckte Häme. Froome hatte dort zum zweiten Mal nach seinem Etappensieg in den Alpen für alle sichtbar deutlich gemacht, dass er seinem Kapitän im Hochgebirge überlegen ist. «Chris ist ein toller Bergfahrer, aber im Zeitfahren wusste ich, dass ich stärker sein kann», betonte der Nachfolger von Cadel Evans.
Der Vorjahressieger aus Australien erlebte in Chartres einen weiteren Einbruch und verlor 5:54 Minuten auf den Sieger. 20 Kilometer vor dem Ziel kassierte er zudem die Höchststrafe, als ihn sein zwei Minuten später gestarteter Teamkollege Tejay van Garderen überholte.
Bester deutscher Radprofi wurde der Erfurter Tour-Debütant Patrick Gretsch (+2:28 Minuten) auf Rang sechs. Altmeister Andreas Klöden enttäuschte in 1:08:02 Stunden als 19. Trotzdem liegt der frühere Telekom-Profi mit RadioShack an der Spitze der Mannschaftswertung und hofft, auch am Sonntag auf den Champs Élysées vorn zu bleiben.
Teamkollege Jens Voigt würde das als große Genugtuung nach dem Schock durch den dopingverdächtigen Fränk Schleck empfinden. «Mit allen verbliebenen sechs Fahrern auf dem obersten Treppchen zu stehen, mit dem Arc de Triomphe im Hintergrund - das wäre ein schönes Bild», sagte der 40-Jährige, der gern noch ein Jahr als Aktiver dranhängen würde. «Ich habe das Okay meiner Frau und meines ältesten Sohnes», verkündete der Berliner.