Roubaix (dpa/rad-net) - Als John Degenkolb auf dem Siegerpodest den schweren Pflasterstein küsste und in die in Höhe reckte, war sein größter Traum in Erfüllung gegangen.
«Jahrelang hatte ich für diesen Moment gearbeitet, jetzt hat man den Moment, und ich kann es noch gar nicht begreifen. Alles, was ich dafür gegeben habe, hat sich heute ausgezahlt», sagte Degenkolb nach seinem Sprint in die Radsport-Geschichtsbücher.
In der sogenannten «Hölle des Nordens» raste der 26-jährige Thüringer zum ersten deutschen Sieg seit 119 Jahren. Degenkolb siegte bei der Kopfsteinpflaster-Tortur des Frühjahrsklassikers Paris-Roubaix nach 253,5 Kilometern, davon 57,5 über die gefürchteten Pavés, nach 5:49,51 Stunden vor dem Tschechen Zdenek Stybar und dem Belgier Greg van Avermaet.
«Ich bin so glücklich und stolz», sagte Degenkolb mit Dreck verschmiertem Gesicht, nachdem er seiner Frau Laura samt Söhnchen Leo-Robert im Zielbereich im Velodrom von Roubaix in die Arme gefallen war. «Sanremo war schon sehr emotional, aber das übertrifft alles. Das ist das Rennen, von dem ich immer geträumt habe, es einmal zu gewinnen. Es ist einfach unglaublich.»
Für den Kapitän im Giant-Alpecin-Team war es bereits der zweite Klassiker-Sieg in diesem Jahr, nachdem er drei Wochen zuvor bei Mailand-Sanremo triumphiert hatte. Für den bislang einzigen deutschen Sieg in Roubiax hatte zuvor der Münchner Josef Fischer bei der ersten Auflage des Rennens im Jahr 1896 gesorgt. Kein Happy End gab es dagegen für den früheren Tour-de-France-Sieger und Olympiasieger Bradley Wiggins, der im letzten Straßenrennen seiner Karriere chancenlos war und Rang 18 belegte.
Der Hauptdarsteller bei der 113. Auflage des Rennens war aber Degenkolb. Nachdem die Belgier Yves Lampaert und van Avermaet zwölf Kilometer vor dem Ziel attackiert hatten, begab sich der Wahl-Frankfurter allein auf die Verfolgung und schloss sechs Kilometer vor dem Ziel auf. «Keiner wollte mit mir zusammenarbeiten, also bin ich selbst gefahren. Ich hatte keine Angst davor, dass es schiefgehen könnte», erklärte Degenkolb die vorentscheidende Rennszene 8,5 Kilometer vor dem Ziel. Vier weitere Fahrer kamen hinzu, so dass eine siebenköpfige Spitzengruppe das Rennen unter sich ausmachte.
Degenkolb, im Vorjahr im Velodrom von Roubaix Zweiter hinter Niki Terpstra, schwärmte schwarz-rot-gold und lobte auch sein Team: «Seit 1896 hat es kein Deutscher geschafft, hier zu gewinnen. Wir haben es heute geschafft. Zwei Monumente des Radsport gewonnen mit dem Namen eines deutschen Sponsors auf der Brust - das ist ein großer Schritt für unseren Radsport».
«Ich habe das Rennen im Fernsehen verfolgt und gratuliere John Degenkolb. Das war eine super Leistung, ein taktisch sehr kluges Rennen und eine herausragende Mannschaft - ein großartiger Tag für John, aber auch für den Radsport in Deutschland», war auch BDR-Präsident Rudolf Scharping begeistert.
Einen starken Eindruck hinterließ auch der deutsche Meister André Greipel, der sich wie schon in der Vorwoche bei der Flandern-Rundfahrt ständig an der Spitze des Feldes zeigte und wichtige Helferdienste leistete.
Es war ein offenes Rennen mit ständigen Attacken, was wohl auch daran lag, dass der dreimalige Sieger Fabian Cancellara fehlte. Der Schweizer, der in den letzten Jahren das Rennen nicht nur bei seinen drei Siegen oftmals kontrolliert und dominiert hatte, ist wegen zweier Brüche im Lendenwirbelbereich in diesem Frühjahr außer Gefecht gesetzt. Auch Mehrfachsieger Tom Boonen fehlte verletzt.
Beim Start in Compiègne stand noch Wiggins im Blitzlichtgewitter. Der Brite widmet sich zukünftig wieder dem Bahnradsport und will in Rio 2016 seine Medaillensammlung aufstocken. Mit einem Sieg in Roubaix wurde es aber nichts, auch wenn der zum Ritter geschlagene Wiggins nichts unversucht ließ. 30 Kilometer vor dem Ziel hatte Wiggins eine Attacke gestartet, wurde aber wieder eingeholt.
85 Kilometer vor dem Ziel hatte eine geschlossene Bahnschranke kurzzeitig für Aufregung gesorgt. Eine neunköpfige Ausreißergruppe, darunter Ralf Matzka vom deutschen Team Bora-Argon 18, war davon nicht betroffen. Die Flüchtlinge hatten sich nach gut 20 Kilometern vom Feld gelöst und zwischenzeitlich einen Vorsprung von über neun Minuten herausgefahren. Als das Rennen aber in die entscheidende Phase ging, war ihre Flucht beendet.